Flohmarktbriefe (I)
Fritz Ritter an Maria ‘Mietze’ Priester, 23.Januar 1919:
Herzlieb!
Eben ließ mich Tante, die eine Freundin besuchen will, mit dem Abschiedswort: „Sei nicht bös über mein Fortgehn“ allein in der Wohnung zurück. Ich hätte ihr mit den Worten des Liedes antworten können: „Einsam bin ich, nicht allein“, vor wenigen Minuten hätte auch das weitere, was der Text dieser berühmten Arie besagt, auf meine Lage gepasst; Denn – um mich her im Mondenschein schwebte Dein geliebtes Bild. Ich stand draußen über das Geländer unseres Balkons geneigt, der einen für städtische Begriffe wunderschönen Blick auf die gepflegten Anlagen einer Loge – eine grüne Oase in der Ruinwüste der Großstadt – gewährt. Es herrschte sonntägliche Stille, aus der Ferne nur drang ein fortdauerndes dumpfes Geräusch herüber, die verstummende Stimme des großen Gemeindesees; der Mond arbeitete sich langsam durch eine schwere Wolkenschicht und spaltete sie wie ein Riese, der mit silbernen Hammer ein Bergmassiv zerschlägt. Die Bäume tauchten ihre Kronen in sein weißliches Licht und zogen ein Gewirr dunkler Schattenlinien auf die welken Rasenflächen. Ich blickte dem Nachtgestirn in sein helles Angesicht und bat um ein Wunder. Wie wenn Du Dich plötzlich aus der Luft aus dem Strahlengeflimmer verdichtet hättest, aus dem Lichtgewand deine Gestalt hervorgestiegen wäre wie Venus aus dem Schaum des Meeres! Wenn Du mit einem Mal in holdester Wirklichkeit, leibhaftig mit lieben Lächeln vor mich hingetreten wärst – wie wohl hätte ich Dich empfangen und im Triumph hineingeführt! Lieber noch heimgeführt!
Es geschah aber nichts dergleichen – wie unsäglich nüchtern und prosaisch geht es doch hinieden zu! – Und so musste ich voller Trübsal allein in meine Klause zurückkehren. Da sitze ich denn nun, vergegenwärtige mir die Stunden unseres Zusammenseins, betrachte das einzige Bild, das ich von Dir besitze, und höre dann Rauschen in meinen Ohren zu. Was da rauscht, ist Leben; So eilig rauscht es aber auch dahin. Es kommt mir vor, als läge das gemeinschaftlich durchlebte schon weit zurück. Tiefe Stille liegt über dem ganzen Haus ausgebreitet und eine Empfindung erwacht in mir, ich befinde mich als Einsiedler irgendwo in öder Abgeschiedenheit, wo ich, als Einziges, was mir noch geblieben, von dem Gedächtnis vergangenen Glückes lebte. Doch was für vertracktes Blech bin ich wieder zu faseln im Begriff! Wenn Du mich einen sinnlos-sentimentalen Waschlappen nennst, ist dir nur beizupflichten.
[...]
Danke für die Entschlüsselungshilfe (der Brief ist handschriftlich in Sütterlin) an mein Herzlieb Swan aka Z. =)… zweiter Teil folgt irgendwann.
*Orthographie, Interpunktion und Paragraphen wie im Original. Das Copyright an diesen Texten liegt bei dem aktuellen Besitzer (dem Autor dieses Blogs). Anm. des Transkribienten.