Schlummer. Ein Geschichtchen.
Für Ju.
1. Viertel nach Vier.
Als Lisa erwachte, hörte sie ein Geräusch. Das irritierte sie. In ihrem Haus gab es normalerweise keine Geräusche und schon gar keine zu dem Zeitpunkt des Erwachens oder kurz danach. Sie schlug ihre Augen auf (was sie eigentlich immer erst mehrere Minuten nach dem Aufwachen tat, um den Übergang zwischen Traumland und realer Welt sanfter zu gestalten) und blickte sich in ihrem Schlafzimmer um: Es war nicht auszumachen, was das Geräusch verursacht haben könnte und auch die Natur des Geräusches (es hatte sich bei dem Gehörten um ein dumpfes, völlig unmelodisches Gurgeln gehandelt, nicht etwa wie das Gurgeln von Wasser, dem, selbst wenn es Brackwasser ist, das den rostigen Abfluss der Toilette einer Altbauwohnung hinunterfliesst, doch immer eine gewisse phonetische Anmut innewohnt, die ihm von der Natur mitgegeben ist) ließ keinen Schluss auf seine Herkunft zu.
„Hallo?“ warf das Mädchen in den Raum, als ob es als Quelle des verwirrenden Tones jemanden oder etwas ausgemacht hätte, der auf Fragen auch antworten konnte. Aber es antwortete niemand. „Hallo!“ sagte Lisa erneut und dieses mal gab es keinen Zweifel daran, dass am Ende der Äußerung ein Ausrufezeichen stand. Ein paar Sekunden war alles still, dann gurgelte es wieder. „Das ist unter dem Teppich“, dachte sie, und noch bevor sie die durch diesen Gedanken in ihrem Kopf ausgelöste Assoziationskette zu Ende bringen konnte (ein Ende übrigens, das eine Wiederauffrischung eines alten Kindheitstraumas auslösen hätte können, welches daher rührte, dass sie den Kopf vor vielen Jahren einmal unter einen großen Teppich gesteckt hatte, um kurz nachzusehen, ob darunter wirklich Monstren lebten, dann immer weiter darunter gekrochen war und sich schließlich heillos in der Dunkelheit unter dem schweren, alten Gewebe verirrt hatte, bis sie nach Stunden von ihrem Vater entdeckt und befreit wurde, zu einem Zeitpunkt, zu dem sie sich bereits resignierend auf den aus ihrer Sicht in Kürze nahenden Tod eingestellt hatte), war der Gegenstand ihrer Aufmerksamkeit nicht mehr vorhanden. Der Teppich war einfach verschwunden.
Nun haben es Gegenstände in der Welt, in der wir uns befinden, im Allgemeinen nicht an sich, einfach zu verschwinden, es sei denn, es handelt sich dabei um skurrile Fundstücke aus dem Photoarchiv von Lisas Großmutter, die sich sehr häufig im Zusammenhang mit den Besuchen der jungen bei der alten Dame im Nichts auflösten, von daher ist es sicherlich nicht verwunderlich, dass die anfängliche Verwirrung auf Seiten der Protagonistin an dieser Stelle der Geschichte sehr plötzlich in Angst umschlug. Die Schallwellen eines schrillen Kreischens verbreiteteten sich bis in die hintersten Winkel des Hauses, dieses mal sehr genau einer Quelle zuordenbar (Lisas Mund), schafften es aber aus dem Zimmer im ersten Stock nicht, bis zu den Nachbarn zu dringen, die sich im Vorgarten des angrenzenden Anwesens zu diesem Zeitpunkt bereits schmutzige Witze erzählten („Wer fickt besser, dein Hund oder der Postbote?“), Long-Island Ice Tea tranken und ihre Vorliebe für skurrile Sonnenhüte offenherzig zur Schau stellten. Zur Verteidigung der Nachbarn (obwohl wirklich niemand in der ganzen Stadt die Langheinrichs wirklich verteidigen würde), könnte man anbringen, dass Lisa Langschläferin war, was die Sache mit dem Alkohol etwas relativiert, die Sonnenhutgeschichte aber keineswegs rechtfertigt.
[unleserliche Passage im Manuskript]
Und genau genommen war Schlafen auch schon das einzige, das Lisa wirklich gerne tat. Manchmal fand sie auch Spass daran, Männer emotional zu quälen, aber in den meisten Fällen schien ihr das deutlich zu anstrengend angesichts dessen, was man für die ganze Mühe an wenig innovativen Reaktionen von Seiten der mit Penis bestückten Hälfte der Gesellschaft geboten bekam.
—
2. Gespenster im Hof.
„Jetzt mal ehrlich: Ich will Dir doch bloß helfen, Simon“, sagte er. Ich verschränkte die Arme vor mir. Es war Antwort genug.
Er seufzte. „Ok, pass auf, ich erkläre es Dir anders: Es ist sicherlich ein guter Einstieg. Alice meets Kafka, das Erwachen, eine merkwürdige Situation, ein junges Mädchen. Fast klassisch. Aber weißt Du denn wirklich, wo der Kram hinführen soll? Sei mal bitte ehrlich.“
„Ich habe den Schlusssatz schon geschrieben“, sagte ich.
Frank zögerte kurz mit seiner Antwort, ein alter Trick von ihm, auf den ich immer wieder reinfiel. Wenn er auch nur eine Millisekunde zu lange nicht antwortete, dann fühlte ich mich meist derart verunsichert, dass ich damit begann, mich vor ihm zu rechtfertigen und ich tat das oft, indem ich seine Kompetenz in Frage stellte (was mir im Nachhinein in 95% aller Fälle schrecklich leid tat und schlussendlich zu vielen Erinnerung der Marke „weißt Du noch damals, als Du ausgetickt bist, obwohl ich Recht hatte“ führte).
„Was weißt Du denn davon? Du hast den Kram vielleicht auch studiert, aber guck Dich mal an in Deinem Anzug und in Deiner ganzen Arschkriecher-Art: Du bist nur ein verfluchter Geschäftsmann. Mehr nicht.“
Es traf ihn.
Der Mann mit der hohen Stirn, der an diesem Tag nicht einmal wirklich einen Anzug, sondern nur ein Jackett nebst legerer Alltagskleidung trug, begann damit, seine auf meinem Schreibtisch verteilten Sachen einzusammeln.
„Ja, dann geh halt. Ich habe sowas von die Nase voll von Dir, Frank. Ich habe den Schlusssatz schon geschrieben, und was das heißt, das wirst Du auch in tausend Jahren nicht begreifen. Ich habe noch nie so früh schon gewusst, wo die Sache endet“, sagte ich.
Frank sagte zuerst nichts. Er war eigentlich viel zu diplomatisch und kannte mich zu gut, um sich in dieser Situation auf Diskussionen einzulassen, und genau das liebte ich an ihm. Aber an diesem Tag hatte ich schon zuvor den Bogen mehr als einmal überspannt.
„Du weißt überhaupt nicht, wie es endet“, sagte er. „Dir sind ein paar zufällige, kontextlose Zeilen eingefallen, die Du für das Ende einer Geschichte hältst, und weil Du gestern Nacht betrunken diese Geräusch-Teppich-Nummer aus Deinem verkorksten Hirn rausgeholt hast, glaubst Du jetzt, die beiden Textbausteine hätten irgendeine Verbindung metaphysischer Art, die nur Du allein erkennen kannst. Also wirst Du 220 Seiten wirren Mist dazwischen tippen und es für Bestimmung halten. Und dann haben wir Deinen dritten Flop in einer Reihe und Du kannst einpacken. Du kannst wieder als Gärtner arbeiten, wenn Du das hier weiterschreibst und wenn wir es drucken lassen. So sieht leider die Realität aus.“
„Ich träume heimlich schon die ganze Zeit davon, wieder als Gärtner zu arbeiten“, sagte ich.