Flohmarktbriefe (XI)
Gertrud Priester an Maria ‘Mietze’ Priester, 21. Oktober 1913
Geliebtes Miezekind,
heute morgen habe ich den Brief erhalten, tausend Dank, dass Du sie so schnell schicktest; bis jetzt habe ich sie ja noch nicht nötig gehabt. Augenblicklich sitze ich im Konferenzzimmer und fühle mich körperlich wie seelisch sehr elend. Ich zähle schon wieder bis zu den nächsten Ferien – also wie ich die patriotische Feier gehalten habe! Denke Dir, ich war in Leipzig. Ich hatte sogar das große Vergnügen den Kaiser zu sehen und noch viele andere Fürstlichkeiten. Das Denkmal habe ich allerdings nur von weitem besichtigen können, da es abgesperrt war. Freitag abend fuhren wir nach Leipzig, nämlich: Fräulein Lesser und ich. Alle zusammen hatten keine Ahnung von der Stadt. Und doch fanden wir ein einigermaßen billiges Zimmer im Wirthehause. Sonst war es überall überfüllt. Im Hotel konnte man ein Zimmer kaum für 20 M haben. Wir haben 2,80 M für ein nettes Zimmer mit Morgenkaffee bezahlt. Am Freitag Abend sahen wir uns noch gleich die Ausstellung, wenigstens die Anlagen, da sonst alles verschlossen war, an. Die Vergnügungslokale waren natürlich geöffnet, wir aßen im Tanzpalast Abendbrot und vergnügten uns köstlich. Nachher fanden wir auch noch recht lustige Herren (Referendare) und haben mit diesen bis ½ fünf Uhr morgens gefeiert. Dass das recht fidel war, kannst Du vielleicht ausmalen. Nachher hatte ich ordentlich Gewissenbisse, ob sich dergleichen auch wohl für eine Lehrerin ziemte. Aber man ist schließlich auch nur ein gewöhnlicher Sterblicher. Wie schnell sind die Jugendjährchen verflossen. Ich marschiere doch auch schon auf die 25.
Auf der Reise nach Dessau von Braunschweig aus lernte ich einen reizenden Menschen kennen. Er hatte Ähnlichkeit mit Herrn Büscher nur älter, aber auch noch ein Stud. Er hat mir seine Visitenkarte gegeben mit der Bitte ihm zu schreiben. Er weiß meinen Namen nicht. Würdest Du schreiben? Eigentlich müsste ich mir den Spass ja machen, es ist sonst zuwenig Abwechslung im scheußlichen Dessau. Ich hasse es ordentlich.
Doch jede Woche habe ich einen Lichtblick, denn ich treffe mich jeden Mittwoch nachmittag mit ihr. Doch Du weißt ja noch nicht, mit wem! Lini, natürlich. Ausnahmsweise trafen wir uns gestern schon. Da gab es denn ein Austratschen. Da ist eben noch das einzig Schöne, daß ich jetzt Lini hier habe. Lini ist sehr gerne in Dessau. Sie hat ein urgemütliches Zimmerchen. Gestern waren wir im Tiergarten. Urbrav müssen wir beide hier sein. Viele Augen richten sich schon allein auf Linis Tracht. Und nun noch dazu das hübsche Mädl. Durch diesen Brief hat sich mein Seelenzustand gebessert. Hoffentlich hält es an. Nächste Woche gehe ich auch mal ins Theater. Meine Reise nach Leipzig hat fünf Theatervorstellung in die Tasche gesteckt. Doch das schadet nichts, dafür war es einzig schön. Herzlichen Gruß an Tante, Agnes, Hilde, und übrige Pensionärinnen.
Dir danke ich nochmals herzlichlich. Schnell noch einen Kuss auf beide Backen, ich verbleibe in Liebe
Dein altes, treues Schwesterlein.
*Orthographie, Interpunktion und Paragraphen wie im Original. Das Copyright an diesen Texten liegt bei dem aktuellen Besitzer (dem Autor dieses Blogs). Anm. des Transkribienten.