Kollektiv
Sie trieben die ganzen schwarzen Schweine ins Bergwerk hinunter. Ich stand drüben am Turm, die gleißende Herbstsonne genau über der Kuppe des Berges. Aus dieser Entfernung sah es ein bisschen so aus, als würde ein grotesk großer, schwarzer Tausendfüssler in einem Loch verschwinden, gefolgt von eine handvoll Stöcke schwingender bunter Kleckse. Ich zündete mir eine Selbstgedrehte an und dachte über das nach, was Elias über die Theorie hinter der ganzen Sache gesagt hatte. Es machte auf bizarre Weise Sinn und doch hatte ich ein verflucht ungutes Gefühl dabei, was mich allerdings nicht daran hinderte, mich hinzusetzen, die letzten Sonnenstrahlen auf meine Glatze scheinen zu lassen und langsam wegzudämmern, betäubt von Whisky und dem undefinierbaren Zeug, das man hier dem Tabak beimischte. Als nach einigen Stunden einer der Leute wieder nach oben kam, ein bärtiger Typ mit einer roten Kapuze, den ich als den ‘Zerrmixer’ kennengelernt hatte und in eine silberne Trompete blies (es schien mir kurz, als würde sich die Sonne so darin refektieren, dass das Licht direkt in meine Augen fiel), war ich schlagartig hellwach. Die helle, kurze Tonfolge hatte sich irgendwie in meinem akustischen Wahrnehmungskanal verfangen und spulte sich selbst immer wieder ab. Ich stand auf und ging schwankend auf den Eingang des Bergwerks zu.
“Wir haben es wieder vollbracht”. Jannis strahlte. Er war über und über mit Blut besudelt, seine Hände und kompletten Unterarme waren rot, sein Gesicht sommersprossenartig mit trocknenden Spritzern übersäht. “Ich bin beeindruckt”, sagte ich. Beim Film nennt man es Wort-Bild-Schere, wenn das, was gesagt wird und das, was die Bilder ausdrücken, auseinanderdriftet. Die Schere zwischen meiner Mimik und meinen Worten war hoffentlich unübersehbar. Ich fühlte nur Abscheu. “Neuling, Du hast keine Ahnung”, sagte Elis, “keine Ahnung”. Er wiederholte die beiden Worte anschließend noch einmal. Oder war das nur wieder das, was sie Loop nennen und mit der Droge zusammenhängt? Es war mit scheißegal. Ich konnte mit dieser Situation nicht umgehen. Fünf Männer und drei Frauen, die gerade an die sechzig Tiere mit beinahe bloßen Händen umgebracht hatten, um einer von ihnen selbst erfundenen Inspirationsgöttin zu huldigen, an deren Existenz sie nichteinmal im tatsächlichen Sinne glaubten. Umgebracht? Niedergemetzelt. Wie war ich hier hineingeraten? Ich hatte natürlich, wie jeder von uns, schon von primitiven Tieropferritualen gehört. Schließlich kommt sowas sogar in der Bibel vor, oder nicht? Aber das hier was etwas anderes, wahrscheinlich deshalb, weil es nicht nur Literatur war. Weil es nicht in einer lang verflossenen Epoche spielte, sondern im Hier und Jetzt. Weil diese Leute kein primitiver Stamm in der dritten Welt waren. Es war barbarisch, es war wahnsinnig roh. Es war ekelhaft. Und es funktionierte.
Ich blieb. Nach einiger Zeit gewöhnte ich mich an das jährliche Fest. Als ich das vierte Mal daran teilnahm, bemerkte ich, dass ich schon Wochen davor begann, mich heimlich darauf zu freuen. Ich war endlich Teil einer Gemeinschaft, die nur den Zweck verfolgte, Kunst zu erschaffen. Und das Fest verband uns. In manchen Situationen muss man seinen inneren Schweinehund bezwingen. Bei uns muss man ihm freien Lauf lassen. Nach dem fünften Jahr erklärte ich zum ersten Mal einem Neuankömmling, dass er keine Ahnung hätte. Und ich war überzeugt von dem, was ich sagte.