Überleitung.

Ein Regentropfen fällt mir direkt unter dem linke Auge auf das Gesicht und läuft anschließend die (ebenfalls zu der Begriffseinheit „Gesicht” zählende, aber hier aufgrund der folgenden, naheliegenden Assoziation explizit so genannte) Wange hinab. Ich bin irritiert davon, wie sich das anfühlt und bleibe kurz in einem Hauseingang stehen.

„Ich habe schon lange nicht mehr geweint”, denke ich.

„Dafür schreibst Du in letzter Zeit eine Menge”, sagt ein anderer Teil von mir.

„Gute Theorie. Wenn es doch stimmt, was die Westentaschenpsychologie sagt, nämlich, dass man Gefühle einfach nur rauslassen muss, damit alles gut wird, dann ist das Schreiben vermutlich genau das, was das Weinen ersetzt.”

„Schreiben ist quasi Weinen auf Papier”, sagt der dritte Teil von mir, derjenige, der gerne alles auf knackige Aphorismen und Punchlines runterbrechen will.

Ein kurzes Schweigen, dann lachen drei Stimmen in meinem Kopf, beschließen, dass das sehr kitschiger Müll ist und wir laufen weiter durch den Regen in Richtung der Tankstelle, Tabak kaufen.


Litanei.

Wenn Du Dich versteckst, bei Tag. Wenn Du niemanden hast, zu dem Du gehen kannst, in der Nacht. Wenn Du immer auf der Flucht zu Dir selbst bist, es Dich aber trotzdem von innen her zu den Menschen zieht, weil es in Deiner Natur liegt. Wenn Du Dich schämst für Dich, wenn Dich nie jemand gelehrt hat, stolz auf Dich zu sein, sondern nur, dass Du nicht gut genug bist. Wenn Du jeden Tag akribisch daran arbeitest, gut genug zu sein. Wenn Du Dir Listen machst, Listen mit Dingen, die Du tun musst, um gut genug zu sein. Wenn Du jeden Tag zu einer bestimmten Uhrzeit aufstehst und damit anfängst, die Listen abzuarbeiten, bis die Listen zu einem Versprechen von einer anderen Zukunft werden. Wenn Du das Versprechen schon lange nicht mehr glaubst. Wenn Du kein Fleisch isst, wenn Du jeden Tag Sport machst, wenn Du Dich zu sozialer Interaktion zwingst, obwohl Du weißt, wie es oft endet, wenn Du zwanghaft versuchst, Nikotin und Alkohol zu vermeiden, obwohl Du sie am Abend so dringend bräuchtest, um in den Schlaf zu sinken, der nicht von selbst zu Dir kommen mag, nicht mal er legt sich noch gerne zu Dir ins Bett. Wenn Du schreibst, aber nicht über Dich, sondern von Dir fort, weil Du Dir selbst gar nicht wichtig genug bist. Wenn Du weitergehst, obwohl Du im Weitergehen Dinge verpasst. Wenn Du merkst, dass Du Deinen eigenen Ansprüchen nie genügen kannst, weil sie mit den Anstrengungen wachsen. Wenn Dir die Menschen egal geworden sind, weil Du sie so selten als Freunde agieren sehen hast. Wenn Du Dich darüber in ekelhaftem Selbstmitleid suhlst. Wenn Dein Kopf nicht weiß, wohin er die Gedanken packen soll und nie auch nur eine Minute die Fresse halten kann. Wenn Du schreiben musst, um diese Dinge irgendwo einzusperren, an einem Ort, an dem Du sie in Ruhe betrachten kannst, als hätten sie mit Dir überhaupt nichts zu tun. Wenn Du nie stehenbleibst, weil Du noch nicht angekommen bist, aber nie ankommst, weil Du nicht stehenbleibst.


Schallplatten & die Knöpfe an Deinem Kleid.

Ich hatte schon lange keinen so sexuellen Moment mehr wie den, in dem Du mich fragtest, ob ich Dir helfen könnte, Dein blaues Kleid zuzuknöpfen, obwohl ich in den letzten Monaten mit verschiedenen Menschen geschlafen habe. Wir sind auf diesem Konzert, eine Band mit zu vielen Mitgliedern für eine gewöhnliche Band spielt diese entrückte Folkmusik, die eine Menge beschissener Hipster angelockt hat, im Hintergrund der Bühne wird eine überdimensionale LP an die Wand projiziert und Du bemerkst plötzlich, dass Du nur den obersten Knopf Deines Kleides zugemacht hast, der Rest steht offen und entblößt die obere Hälfte Deines Rückens. Zuerst versuchst Du, das Problem selbst zu lösen, dann fragst Du mich, ob ich Dir helfen kann. Ich schließe nach und nach jeden dieser fünf Knöpfe, meine Fingerspitzen berühren dabei mehrfach Deinen Rücken und mir wird in diesem Moment plötzlich wieder bewusst, wie wenig Erotik in ihrem Kern eigentlich mit Geschlechtsorganen zu tun hat. Es geht um Vertrauen, um Vertrautheit und kleine Details, um die Dinge, die eben nicht passieren, nicht ums Ficken. Ich knöpfe Dein Kleid zu, während die Musik läuft und dieser Moment erregt mich in meinem Kopf so viel mehr als Sex mit Großstadtmenschen, die verlernt haben, was es eigentlich bedeutet, einen Menschen zu begehren, es jemals könnte.


Schriftstück.

Ich lebe, um mich zu finden und schreibe, um mich zu verlieren. Schreiben ist: Das, was man an Eindrücken, Gefühlen und Details wie ein Schwamm aufgesogen hat, bis auf den letzten Tropfen auf ein Stück Papier auszuwringen, es genau von allen Seiten zu betrachten, wie ein Journalist, der Recherche über sein eigenes Leben betreibt, es mit dem Aufschreiben erst greifbar und real zu machen, es dann in kleinste Einheiten zu zerhäckseln und völlig sinnentstellend zu rekombinieren, damit es kein Teil mehr von einem selbst als realer Person ist. Der Prozess hilft dabei, Erinnerungen genau zu erfassen, zu analysieren, zu verinnerlichen und dann ganz weit wegzuschieben, damit sie gar nicht erst die Chance bekommen, sich in Monster zu verwandeln.


Gespräch über Photographie.

„Hey, ich habe eine Frage: Ich will gerne kochen wie ein paar Bekannte von mir. Die werfen einfach irgendetwas in den Topf und es wird oft ganz lecker. Welche Töpfe brauche ich denn dafür?“

„Es liegt nicht am Topf.“

„Meine Bekannten behaupten aber, dass es an den Töpfen liegt. Früher hatten sie nämlich andere Töpfe und sie sagen, dass das Essen viel besser wird, seitdem sie neue Töpfe haben. Einer von denen hat sogar schon mal für einen Cateringservice gekocht und Geld dafür bekommen.“

„Diese Leute haben einen an der Waffel.“

„Also, jedenfalls: Ich will jetzt auch so kochen wie meine Bekannten, was muss ich tun?“

„Lern Kochen. Ich kann Dir ein paar gute Rezepte geben, auch für Einsteiger.“

„Nein, Du verstehst mich nicht. Ich will keine Rezepte oder irgendwas durchlesen. Ich will einfach nur geil kochen, wie meine Bekannten. Welche Töpfe benutzt Du denn?“


Eins: Hier.

Wenn ich zurückblicke auf die merkwürdige Kette von Menschen, die in den verschiedenen Leben, die ich bisher leben durfte, durch meine Tage gerauscht sind, ohne nennenswerte Eindrücke oder größere Dellen an meiner Persönlichkeit zu hinterlassen, dann verstehe ich eigentlich noch weniger, was eigentlich an dieser Frau anders war. Ja, sie war wunderschön, kompliziert und nicht ganz richtig im Kopf, aber das waren viele, die ich in mein Leben und nach einiger Zeit wieder verschwinden habe lassen. Ich habe sie alle immer relativ schnell ersetzt durch neue Gesichter, die ganze Nummer war eher ein Spiel für mich, denn Menschen waren aus meiner Perspektive grundsätzlich sehr einfach gestrickte Geschöpfe, niemals etwas, das es zu bewahren galt. Sie machen langweilige Dinge, leben ihre langweiligen Leben, sammeln virtuelle Dinge wie Reputation, „Spaß“ und Erlebnisse, materielle Dinge wie Wohnungseinrichtungen und Wertgegenstände, und irgendwo dazwischen sammeln sie, genau wie ich selbst es tat, auch andere Menschen, idealerweise solche, die in beide Kategorien fallen, also sowohl bei der Vorführung vor Verwandten und Freunden Neid hervorrufen, wie ein paar neue, teuere Schuhe, als auch möglichst viele Erlebnisse versprechen und eigenes Wohlbefinden durch entsprechendes Begehren oder gefühlte Übereinstimmung von Ansichten stimulieren. So weit, so belanglos.

Ich kann heute nicht mehr mit Bestimmtheit sagen, was damals passiert ist, als ich sie traf, was sich im Laufe der dann folgenden Zeit geändert hat, natürlich habe ich meine Theorien dazu, was ich aber mit Bestimmtheit weiß, ist, dass sie irgendetwas sehr Altes mir kaputtgeschlagen hat mit ihren Worten und Taten, dass wir es dann zusammen gänzlich kleinhackten mit der Art und Weise, wie wir interagierten, etwas, das danach nicht mehr aufzukehren und zusammenzusetzen war, auch wenn ich das sehr oft versucht und mir an den Scherben immer wieder blutige Hände geholt habe. Vermutlich nennt man das, was mir mit diesem Menschen widerfahren ist, Liebe – und obwohl ich das Wort vorher schon oft benutzt und das Gefühl zu kennen geglaubt habe, merke ich erst jetzt, was es eigentlich bedeutet, einen Menschen mit jeder Faser meines Körpers zu lieben. Und das bedeutet bei Weitem nicht nur etwas Gutes. Es bedeutet auch, dass man akzeptieren muss, dass dieses Gefühl nie wieder verschwinden wird, so grotesk widerwärtig der andere einen in einer möglichen Zukunft auch behandeln mag. Menschen sind, obwohl wir am Ende alle das Schicksal teilen, irgendwo unter der Erde rumzuliegen und uns unter tatkräftiger Mithilfe von diversem Getier selbiger anzugleichen, Zeit ihres Lebens von sich selbst besessene Monstren, machen wir uns nichts vor, aber Liebe ist der Moment, in dem man es einem Einzelnen von ihnen verzeihen kann. Sie ist vielleicht eines der wenigen Dinge, die einem nie mehr weggenommen werden können, weil sie ganz tief im Selbst heranwächst, absolut unausrottbar und vermutlich so lange vorhanden, bis man irgendwo in einem Altersheim, sich selbst in die Windeln scheißend, das Gesicht der Person, für die man so fühlt, langsam vergisst. Vielleicht aber vergisst man diese Emotion nicht mal dann. Man muss dankbar dafür sein, sie erleben zu dürfen. Sie ist vermutlich selten.


Re: Emotion

In Momenten plötzlicher, überwältigender Schönheit schnürt mein limbisches System in Sekundenschnelle ein unfassbar komplexes, sich selbst widersprechendes Bündel an Emotionen und wirft es mir einfach zu. Ich stehe dann da und weiß nicht, ob ich es unbedingt fangen oder so weit wie möglich von mir wegschlagen will.


Followerpower.

Leistungsträger, Erfolgsdruck, selbstgehäkelt, hier guck mein tolles Projekt, ich mach so viel, dass ich es kaum mehr schaffe. Findet ihr das nicht alle super, was ich alles mache? Lest ihr auch brav mit und klickt fleißig auf meine Buttons und followed und liked meine Projekte? Seid ihr nicht auch so froh, dass die Welt nie stillsteht, dass immer das nächste Projekt kommt und man nie weiß, was eigentlich wichtig ist, weil, die ganzen Sachen muss man ja erst mal machen, Reflektion kommt später? Ich schreib jetzt auch Bücher und halte Vorträge, ja, das tue ich, wen interessiert da schon noch, was ich eigentlich sage, wenn ich im Radio rede? Die alten Medien. Eigentlich mache ich mich über sie lustig, aber wenn sie anrufen, dann stehe ich auf der Matte und twitter euch das mit fünfhundert Tweets pro Minute ins Gesicht, wie toll es ist, in einem Fernsehstudio zu sitzen, denn eigentlich geht‘s hier doch darum, dass wir Macht haben. Und wenn ihr lest, dass ich Macht habe und in einer drittklassigen Talkshow auftrete, dann glaubt ihr, dass ich wichtig bin und klickt noch mehr auf meine Buttons. Und je mehr von euch auf meine Buttons klicken, desto mehr rufen die Sender bei mir an, versteht ihr den Kreislauf? Inhalte sind dabei nicht wichtig. Ich habe viel Macht. Ich dirigiere die Massen und wenn ich mein Mittagessen twitpice, dann klicken das vierhundert Leute an. 10% meiner Follower, ich meine, das ist schon was, vierhundert Leute, die ich gar nicht kenne, die sich für mein Mittagessen interessieren, das fühlt sich einfach gut an. Hier, guck mein neues Projekt, wir haben schon zweihundert Fans auf Facebook, der geschäftliche Erfolg kommt bei so viel Social Power wie von selbst, und wenn er nicht kommt, dann lassen wir es wenigstens so aussehen, als wäre er schon da, das zieht Kunden und Investoren, sozusagen Self-Fulfilling-Business. Am Ende ist es in jedem Fall ein Erfolg und wenn die Leute anfangen, zu bemerken, dass es doch nur Quatsch ist, dann sind wir längst beim nächsten Projekt und das Ding ist sowas von Zweitausendzehn, das will doch heute keiner mehr sehen, da habt ihr die Entwicklung verschlafen, ist ja auch klar, denn als wir absprangen, war es zum Untergang verurteilt, uns kann man nicht einfach mit irgendwem ersetzen, wir sind die Netzexperten. Ist doch egal, ob ein Kern da ist, Hauptsache, die Hülle glänzt, oder? Nächste Woche startet schon das nächste große Ding von uns, macht euch bereit, wir werden euer Leben total verändern, glaubt mir.


Rolle, jetzt!

Man kann entweder so tun, als wüsste man, wer man ist („Hallo, ich bin der Dirk und ich bin Medienjournalist / Blogger / Ohrenarzt / Anwalt / Vater von zwei Kindern / Briefmarkensammler / Bademeister / Student / studierter Philosoph / Bäcker / der Freund von… / Regisseur / Polizist / Pornodarsteller / Autor“) oder man fliesst einfach so durch verschiedene Rollen, die sich je nach Kontext ergeben und permanent ändern. Will man erfolgreich sein mit dem, was man tut, dann ist der zweite Weg in keinem Fall zu empfehlen. Erfolg fordert die totale Verschmelzung mit der sozialen Rolle bis hin zur Selbstverleugnung und das kriegen fast nur stupide Arschlöcher hin, die in Sachen Phantasie eher Autisten sind und das wirklich so durchziehen können, die sich ‘total committed’ haben oder halt Leute, die echt gute Schauspieler sind und es aussehen lassen können, als wäre diese eine Rolle wirklich das einzige große Ding, das ihnen am Herzen liegt, obwohl das natürlich Bullshit ist. Traurig ist, dass die, die es nicht hinkriegen, diesen Fokus zu vermitteln, sich dann wegen des daraus resultierenden mangelnden Erfolges oft so hängen lassen, dass sie sich irgendwann gar nicht mehr richtig um ihren Kram bemühen, weil er ja scheinbar sowieso egal ist, es guckt ja keiner mehr zu, und am Ende wirken dann tatsächlich diejenigen wie die Loser, die eigentlich die ganze Zeit viel ehrlicher bei der jeweiligen Nummer dabei waren. Verdammt.


Merksätze.

Je mehr Optionen der Mensch hat, desto bescheuerter wird er. Desto unmenschlicher handelt er, desto mehr verliert er den Blick auf die Dinge und anderen Menschen, die wirklich wichtig sind, desto mehr verliert er sich in leeren Handlungen und verirrt sich auf völlig bedeutungslosen Wegen, die er irgendwann zurück gehen muss, nur um wieder an den Startpunkt zu gelangen. Deswegen beschneide ich ab heute meine eigenen Optionen.

Zuerst beschneide ich die Zahl der Menschen, die in meinem Leben eine Rolle spielen, die Menschen, mit denen ich überhalb einer emotionslosen, professionellen Ebene kommuniziere. Ich lege außerdem Hürden fest, die von in der Zukunft auftauchenden Menschen zu nehmen sind, bevor sie in mein Leben treten können. Es werden sehr hohe Hürden, und es wird dauern, bis sich auch nur ein Mensch findet, der in der Lage und auch noch Willens ist, sie zu nehmen, aber diese Hürden werden ein für alle mal sicherstellen, dass nicht mehr jeder dahergelaufene Trottel in meinem naiven Gemüth eine Verwüstung anrichten kann, deren Behebung mich Monate oder gar Jahre meines Lebens kostet, wie es in der Vergangenheit viel zu oft geschehen ist (oder zumindest, dass es nur diejenigen Trottel können, die ich selbst dazu eingeladen habe). Anschließend beschneide ich die Art der Tätigkeiten, die ich ausführe. Ich lege jene Tätigkeiten, die ich ganz offensichtlich nicht ausführe, weil ich sie selbst gewählt habe, sondern nur deswegen, weil man „das so macht“, zu den Akten und behalte nur die Art von regelmäßigen Handlungen, die mir tatsächlich am Herzen liegen.

Ich lege ferner exakt fest, welche Ziele ich mit dem, was ich weiterhin tue, erreichen will und auf welchen Wegen ich diese Ziele erreichen kann. Wenn ich für einen bestimmten Bereich kein exaktes Ziel definieren kann, dann erfinde ich ein möglichst unerreichbares Ziel, mit dem ich Jahre zu tun haben werde. Ich beobachte in Zukunft genau, wie ich handle, und ich werde den Handlungsprozess so optimieren, dass er im Laufe der Zeit immer perfekter wird. Ich evaluiere, was ich mit den mir bereits zur Verfügung stehenden Mitteln schaffen kann und an welchen Stellen ich zusätzliche Fähigkeiten erwerben muss, und dann erwerbe ich diese Fähigkeiten. Ich bleibe nicht mehr stehen und ich gehe ohne Rücksicht auf meine eigenen emotionalen Befindlichkeiten oder auf Menschen, deren beschränkte Wahrnehmung mich hemmen könnte, auf meine Ziele zu. Und ich gehe so lange, bis ich sie erreicht habe. Es ist der einzige Weg.

Ich bin mir nicht sicher, ob dieser Text eine Verwandlung in einen rücksichtslosen Pragmatiker oder in einen ganz normalen Menschen beschreibt. Oder beides.


Verlustgeschichte.

Ich bin vor Ort.

Eine Stimme. Eine männliche Stimme.

„Festgebissen in Verlustgeschichten. Die behalte ich für immer“, sagt die Stimme.

„Das ist doch völlig widersinnig“, sage ich. „Verlustgeschichten will man doch loswerden.“

„Dann wären die Verlustgeschichten verloren“, sagt sie.

„Ja“, sage ich. „Hinter sich lassen, das Zeug. Weg damit.“

„Das ist ja der Trick“, sagt sie. „Ich behalte einfach die Geschichten vom Verlust. Der Verlust, der ist verloren, den bringt mir niemand wieder. Aber die Geschichten kann mir keiner nehmen. Verstehst Du denn nicht?“

„Doch, ein bisschen. Du denkst, Du könntest es austricksen. Das ist bestimmt nicht sonderlich gesund, diese Verlustgeschichten immer mit sich herumzuschleppen. Aber was ist das mit dem Festbeißen?“

„Was ist damit?“

„Na ja, das impliziert ja eine Anstrengung! Als müsstest Du Dich auch noch anstrengen, die scheußlichen Geschichten zu behalten und nicht auch zu verlieren. Es wirkt mindestens wie ein so eine Art krampfhafter Zwang. Wie Hunde, die sich festbeißen.“

„Wenn man sich in Geschichten festbeißt, dann hat das den Vorteil, dass die sich nicht dagegen wehren, gebissen zu werden“, sagt sie.

„Psychisch schon“, sage ich. „Und dann noch das mit dem für immer: Was soll das denn heißen? Du kannst das Zeug aufschreiben. Aber Du selbst behältst es nicht für immer. Höchstens so lange, bis Du stirbst. Aber wahrscheinlich nicht einmal das. Viel wahrscheinlicher ist doch, dass Du es nach einiger Zeit selbst nicht mehr lesen kannst.“

„Aber es ist doch für immer, nämlich deswegen, weil ich es dann später nochmal lesen kann, nachdem ich es vielleicht für einige Zeit nicht mehr lesen konnte, wenn Du mir folgen kannst.“

„Vielleicht ist ja das mit dem für immer auch erst das, was die Verlustgeschichten für Dich erst zu Verlustgeschichten macht. Vielleicht sind es in Wahrheit ja alles ganz normale Geschichten, die ein normales Ende haben.“

„Du willst sagen, dass ich am Ende die Verlustgeschichten möglicherweise auch deswegen verlieren könnte, weil ich sie für immer behalten will?“

„Genau das! Wenn Du die Dinge nicht schon von Anfang an für immer behalten wollen würdest, dann hättest Du jetzt wahrscheinlich gar keine Verlustgeschichten, sondern nur Geschichten. Vermutlich ziemlich langweilige Geschichten. So aber hast Du jetzt Verlustgeschichten, die lassen sich auch viel besser erinnern, aufschreiben und wieder lesen, ich verstehe schon, was Du an ihnen findest. Die willst Du aber nicht auch wieder verlieren, also scheint es logisch, dass Du nicht zu sehr an ihnen klammern solltest.“

„Dann könnte ich sie also nur behalten, wenn ich sie absichtlich verliere. Das wäre dann doch der einzige Weg, der zumindest die Option beinhalten würde. Falls Deine Theorie stimmt.“

„Das ist nicht von der Hand zu weisen.“

„Und wie verliert man Geschichten am geschicktesten?“, fragt die Stimme.

„Indem man sie nicht aufschreibt“, sage ich.


Wortspiegel.

Mein Name ist Walter und male Sprachbilder. Bestimmt kennen sie welche von meinen Bildern, vielleicht das mit den beiden hälsisch ineinander verschlungenen Giraffen, die ein Baumhaus aus gepanschtem Acrylamid bewohnen oder das mit dem implodierenden Fixstern, um den in instabiler Umlaufbahn tausende farblose Weltraumelefanten kreisen. Meine Sprachbilder hängen in ein paar Museen, sie werden jedenfalls oft von Leuten gesehen und diese Leute malen dann oft selbst welche und schicken sie mir, oder sie schicken mir lange Briefe, aber ich werfe das meiste von diesem Zeug gleich in den Müll und lasse mein Bureau so eine vorgefertigte Dankeskarte schicken, die aussieht, als hätte ich sie selbst per Hand geschrieben. Das ist mir schon irgendwie wichtig, schließlich finanzieren diese Leute, die mir schreiben, am Ende das ganze Bureau und den ganzen unnützen Krempel, den ich hier so ansammle. Manchmal sind auch richtig gute Sachen dabei, aber das kommt eher selten vor. Mein berühmtestes Bild handelt von diesen seltenen guten Sachen, es ist das mit den Affen und den Schreibmaschinen.  Tiere sind bei mir irgendwie ein roter Faden, aber ich will sie nicht mit Kunsttheorie nerven. Jedenfalls male ich jeden Tag ein Sprachbild, schon seit meiner Kindheit. Ich kann inzwischen gut genug davon leben, um mein Haus nur dann verlassen zu müssen, wenn mir wirklich danach ist, und nicht, um irgendwelchen Zwängen zu folgen. Nahrung und andere Einkäufe lasse ich mir zum Beispiel ziemlich häufig liefern. Ich werde oft als verrückt bezeichnet, aber das ist es nicht, ich bin nicht verrückt, ich bin bei guter geistiger Gesundheit, auch nicht egozentrisch, weil ich mir nicht viel aus mir selbst mache, ich kämme zum Beispiel fast nie meine Haare. Allerhöchstens bin ich vielleicht ein kleines bisschen unnormal, aber ich benutze das Wort nicht in dem negativ konnotierten Sinne, denn „normal“ ist unter den Menschen leider kein einziger, das habe ich zu der Zeit festgestellt, als ich noch verheiratet war und mit viel zu vielen von ihnen zu tun hatte. Sie befolgen nur oft sehr merkwürdige Regeln, weil sie nicht mutig genug sind, so zu sein, wie sie eigentlich sind oder nicht kreativ genug, so etwas wie eine eigene Persönlichkeit überhaupt erst zu entwickeln (das sind die Schlimmsten, ich bin mir aber gar nicht sicher, ob es die überhaupt gibt, oder ob sie nur die größten Feiglinge unter denen sind, die nicht mutig genug sind, d.h. so feige, dass sie als Ausrede, warum sie nicht sie selbst sein können, den Trick anwenden, zu behaupten, dass es ihr selbst gar nicht gäbe).

Wegen diesen ganzen Gedanken, die ich mir mache, bin ich nun leider nicht dumm genug, um den Großteil der anderen Menschen zu ertragen. Deswegen beschimpfe ich sie manchmal in meinen Sprachbildern, was Sie vielleicht im Ansatz auch in diesem Text schon gemerkt haben. Nur hilft das leider keineswegs, sie mir endgültig vom Hals zu schaffen, im Gegenteil macht mich das für viele nur sympathischer und das kommt so: Es gibt zwei Rezeptionsgruppen von denen, die ich mit meinen Bildern oft beschimpfe: Die Einen merken gar nicht erst, dass ich sie beschimpfe (das sind absurderweise die besonders Beschimpfenswerten), sie glauben, dass ich über Andere schimpfe und lachen mit mir über diese von ihnen imaginierten Anderen, die sie eigentlich selbst sind. Die zweite Gruppe tut so, als wäre sie selbstironisch und würde über sich selbst lachen, wenn sie eine Beschimpfung gelesen hat. Sie behauptet dann, dass es wirklich gut wäre, wenn man ab und zu einen Spiegel vorgehalten bekommt. Ich kann das nicht beurteilen, aber wenn ich mir selbst einen Spiegel vorhalte, dann erschrecke ich doch meist eher etwas (manchmal über mich, manchmal darüber, dass ich das mit dem Spiegel gemacht habe), deswegen tue ich das nicht sonderlich oft. Da sich also nun im Ergebnis herausstellt, dass beide Gruppen im Kern nicht wirklich verstehen, dass ich sie eigentlich dauernd beschimpfe, stachelt mich das natürlich zu noch wüsteren Beschimpfungen an, die wiederum noch begeisterter aufgenommen werden, ich glaube, Sie verstehen das Prinzip, das ich meine, das hat im Laufe der Zeit ein ganz eigenes Genre meiner Sprachbilder hervorgebracht, das in ähnlicher Form auch von diesen amerikanischen Sprechgesangskünstlern gepflegt wird. Oft lerne ich auf meinen Vernissagen aber auch solche Menschen kennen, die Sachen machen, die mich immer wieder neu begeistern können. Wenn ich ehrlich bin, dann interessieren mich in 90% der Fälle  aber auch eher die Sachen, die diese Leute so machen, denn ganz viele von denen sind so verrückt wie Berufspolitiker oder irgendetwas noch Schlimmeres, vielleicht Hals-Nasen-Ohrenärzte. Ich kenne keine Hals-Nasen-Ohrenärzte persönlich, aber ich mag mir nicht einmal ausmalen, was mit einem passiert, wenn man sich am Abend im Bett mit der grauenhaften Erkenntnis konfrontiert sieht, für Rest seine Lebens jeden einzelnen Tag in der Hauptsache damit verbringen zu müssen, in anderer Leute Ohren hineinzugucken. Mir geht’s um die 10%.

Heute habe ich wieder ein Sprachbild gemalt. Es geht um mich selbst und ist ziemlich aufwändig gestaltet, mit vielen Sätzen und Buchstaben versehen und es hat sogar Klammern. Und irgendwie gefällt es mir nicht so richtig, das ist vielleicht so ähnlich wie diese Geschichte mit dem Spiegel. Und dann habe ich mir gedacht: Was wäre eigentlich, wenn man diese Leute, über die man sowieso immer nur schimpfen will, einfach komplett ausblenden könnte und nur noch die behält, die einen wirklich herausfordern mit dem, was sie tagtäglich so fabrizieren, und damit meine ich sicherlich nicht die, die einem nur nach dem Mund reden, was sich hoffentlich von selbst versteht. Das wäre doch eine gute Idee. Schließlich wird das Sich-Ärgern am Ende auch nur von der Zeit abgezogen, die einem bleibt, bis man, umringt von finster dreinblickenden Verwandten, unter einem Stein verbuddelt wird. Ich denke gerade darüber nach, wie man das bewerkstelligen könnte.


15 Tipps für Blogger mit normal großem Ego.

1. Schreibe, was immer Du willst.

2. Glaube nicht, dass Du über andere Blogs oder das Internet schreiben musst, nur weil das die Blogs tun, die Du in Deinem Facebookstream verlinkt siehst. Du brauchst Dir auch nicht zwanghaft einen roten Faden ausdenken, Dein Leben hat bestimmt einen, selbst dann, wenn er sich in der permanenten Abwesenheit eines roten Fadens manifestieren sollte.

3. Erschaffe Deinen eigenen Content, klaue nicht einfach nur was aus dem Netz zusammen und Copy&Paste es in ein WordPress-Backend. Das kann jeder Idiot. Falls Du dennoch ernsthaft über Fundstücke bloggen willst, dann suche Dir wenigstens eine noch unbesetzte Nische und finde sehr originelle und hochwertige Inhalte dazu.

4. Lass Dir Zeit bei dem, was Du schreibst. Ein Blog ist nicht schneller als eine Zeitung, das ist ein Mythos. Ein Eintrag wird so lange existieren und von Suchmaschinen und Lesern gefunden werden, wie Dein Blog existiert, also veröffentliche ihn erst, wenn Du wirklich zufrieden damit bist.

5. Dränge Dich als Person nicht zu sehr in den Vordergrund. Eine schlichte About-Seite oder ein paar Buttons zu Deinen anderen Netzaktivitäten reichen locker. Du musst kein Photo Deines grinsenden Gesichts unter jedes Posting hängen und in einer bunten Box in blinkender Schrift dazuschreiben, wie oft Du pro Tag im Durchschnitt retweetet wirst.

6. Du brauchst auch keinen Kram wie Like-Buttons und Flattr-Plugins, die zudem richtig scheiße aussehen, wenn Du das nicht willst. Guter Content reicht meistens, um die Leser zu kriegen, die zu Dir passen. Auf den hysterischen Mob, der Dich heute bis zum Serverglühen durchklickt und morgen wieder woanders hinläuft, kannst Du verzichten.

7. Benutze das Wort „Ich“ nicht permanent in Deinen Postings, es sei denn, Du schreibst literarische Texte in der ersten Person Singular oder erlebst wirklich spannende Sachen, die sich nicht verallgemeinern lassen.

8. Freue Dich über Kommentare, aber nimm sie nicht zu ernst. Nimm es auch nicht zu ernst, wenn Du meistens keine Kommentare bekommst, vielleicht passen zu Deinem Inhalt einfach keine Anmerkungen. Vertraue Dir selbst und sei nicht das Fähnchen im Wind, das bei Vorratsdatenspeicherung nach Peter Schaar ruft, aber bei Google Street View von Datenschutzspießern fabuliert.

9. Suche Dir ein paar Blogs, die Dir gut gefallen. Verlinke sie in Deiner Blogroll und lies sie regelmäßig, auch wenn es Blogs sind, die von Deinen Internetkontakten keiner kennt. Kommentiere ab und zu mal und trag Deine Blogadresse in das dafür vorgesehene Feld ein, aber kommentiere nur dann, wenn Du wirklich etwas zu sagen hast.

10. Gucke Dir Deine Statistiken nicht dauernd an. Sie sagen nichts darüber aus, wie gut Dein Blog ist. Falls Du zu den Leuten gehörst, die in Versuchung kommen könnten, so zu handeln, dann installiere erst gar kein Statistiktool.

11. Spamme mit Deinem Content nicht überall herum. Es ist wirklich nicht notwendig, jedes Posting auf Facebook und Twitter zu verlinken. Wenn Du das nur ab und zu machst, erzielst Du damit außerdem mehr Wirkung als die Leute, die jeden Tag aufgeregte Texte zu brandheißen Themen schnellstmöglich in die Tasten hacken und anschließend überall damit hausieren gehen. Denke an den Jungen, der Wolf schrie.

12. Schalte keine oder nur sehr dezente Werbung. Werbung sieht auf Deinem Blog scheiße aus, das weißt Du doch selbst, und die hundertvierundfünfzig Kröten im Monat brauchst Du doch nicht, um zu überleben, oder? Wenn Du generell nur bloggst, um (irgendwann) Geld damit zu verdienen, dann gestehe Dir ein, dass das Ganze eine ziemlich dumme Idee war. Eine Imbissbude zu eröffnen ist in 99 von 100 Fällen deutlich lukrativer.

13. Achte ein bisschen auf ein ansprechendes Layout. Dein Blog muss angenehm zu konsumieren sein, quietschbunte Links, Avatare Deiner Fans, merkwürdige Buttons und Kommentarboxen an allen Ecken und Enden will eigentlich kein Mensch gerne um Texte herumfliegen sehen.

14. Schreibe keine Postings wie dieses hier. Sie sind genau die Art von Inhalt, der die falschen Besucher anzieht.

15. Wenn Du diese Tipps alle völlig nachvollziehbar findest, dann brauchst Du sie im Grunde nicht zu beachten, denn in dem Fall gehörst Du zu den wenigen Leuten, die das schon alleine ziemlich gut hinkriegen mit dem Bloggen.