Dreisam.
Er schreib ihr drei Briefe, dann schrieb er nicht mehr. „Buchstabenzähne, in unbeschriebene Blätter verbissen: Dieses hungrige Wir.“ Ein Wir, das nicht existierte, nie existiert hatte. Es gab bei genauerer Betrachtung der Umstände immer nur ihn selbst, und selbst das hätte ein fähiger Analyst mit etwas Zeit und mit dem entsprechenden Wissen um den in diesem Fall wohl notwendigen Fokus der Beobachtung höchstwahrscheinlich in Zweifel gezogen. Bernhard saß in seinem Sessel, zündete sich eine Zigarre an und guckte mich mit Augen an, die seinem Namen, der auf mich immer wie ein Name wirkte, den man einem behäbigen Tier geben würde, alle Ehre machten.
„Ich habe mich in der Tonart geirrt, das ist das Problem mit den Briefen, glaube ich“, sagte er und atmete langsam Rauch durch seine Nase aus. Er inhalierte Zigarren. Man sollte meinen, dass einen das umbringt, wenn man es ein paar Jahrzehnte praktizierte wie Bernhard, aber der Bursche war zäh. „Was willst Du eigentlich von mir?“, frage ich. „Lass mich nach Hause gehen. Ich kann Dir nicht mit Deinen Worten helfen. Was habe ich eigentlich verbrochen, dass ich mir das immer antun muss?“
„Erst, wenn Du verstanden hast, was ich Dir sagen will. Ich glaube, dass Du dann eine Lösung für das Problem findest. Du hast das bisher immer geschafft.“
Ich seufzte. Nicht, um ihm mitzuteilen, dass ich kapitulierte (er ging sowieso fest davon aus, dass ich ihm zuhören würde, die Ansage, dass ich gehen wollte, hielt er eher für eine Art inzwischen bedeutungslos gewordenes Ritual zwischen uns beiden, und vermutlich war es das wirklich), sondern eher als Notiz an mich selbst („Seufzer Nummer vierundzwanzig in einer Woche, Du musst Dein Leben ändern. Grundlegend ändern!“) und ließ ihn gewähren. Er öffnete die Schublade des Couchtisches, zog die Briefe und seine Lesebrille hervor, und begann damit, sie mir vorzulesen. Nach einiger Zeit verstand ich das Problem. „Du hast Dich nicht in der Tonart geirrt, Du hast Dich in der Zeit geirrt. Du schreibst ihr, als ob sie nicht mehr unter den Lebenden wäre“, sagte ich. „Zwischen den Zeilen klingt das immer wieder an. Natürlich ist das so, aber es passt nicht zusammen, Bernhard, die innere Logik dieser Briefe stimmt nicht, deswegen hast Du das Gefühl, dass sie so nicht funktionieren.“
Er guckte mich lange an, dann blickte er wieder auf die Papiere in seiner Hand. „Ich bin mir nicht sicher, aber Du könntest Recht haben“, sagte er. Anschließend drückte er die zu drei Vierteln aufgebrauchte Zigarre aus. Der Rest blieb in dem Aschenbecher stehen wie ein untersetztes Ausrufezeichen. „Kannst Du bitte gehen? Ich muss einen Brief schreiben.“
Ich stand auf, ging in den Flur, zog meinen Mantel und meine Schuhe an und dann ging ich, ohne mich zu verabschieden. Drei Monate später hatte ich ein Paket im Briefkasten. Es waren knapp dreihundert Seiten und nachdem ich es zwei Mal gelesen hatte, war ich mir ziemlich sicher, dass es sein bisher bestes Buch war, obwohl ich ihn eigentlich schon lange in die Schublade derjenigen eingeordnet hatte, von denen nichts Brauchbares mehr zu erwarten war. Dieser Hurensohn hatte es noch einmal geschafft, mich richtig zu verblüffen. Und er hatte meinen Rat natürlich nur insofern befolgt, dass er das Problem explizit thematisierte. Ich grinste und ließ ihm Blumen schicken. Er würde sie dankend entgegennehmen und anschließend direkt in den Müll werfen, das wusste ich. Wir hatten unsere Rituale.