Isolat.
Früher Morgen im Dezember, der Schall klirrt surreal in den Ohren, wenn man spricht. Ich sitze im Park auf einer Bank und lausche über weiße Kopfhörer, die entlang dem Stoff meiner Jacke laufen und in meiner Manteltasche münden, Menschen mit Bärten, die von Liebe singen und davon, dass man unter freiem Himmel schlafen soll. Ich erinnere mich kaum noch daran, wann ich das letzte Mal unter freiem Himmel geschlafen habe, es muss zu einer Zeit gewesen sein, als wir uns noch nicht kannten, denn wir haben etwas derartiges nie zusammen getan. Nicht, dass wir es nicht geplant hätten, im Pläne schmieden waren wir immer große Klasse. Wir taten im Grunde nichts weiter, als zu zweit die Phantasien zu neuen Höhepunkten zu spinnen, die wir unabhängig voneinander schon pflegten, bevor wir uns trafen und das war wahrscheinlich unser großer Fehler. Wir multiplizierten einfach Minus und Minus und glaubten an die Geschichten aus dem Mathematik-Unterricht.
Eine Joggerin läuft mit einem Hund vorbei, mit Handschuhen kann man nicht in dieses Gerät tippen, meine Finger laufen nach einiger Zeit bläulich an. Wenn mir ein Arzt mit der routinierten Miene eines Menschen, zu dessen Job es gehört, solche Nachrichten zu überbringen („setzen Sie sich besser“) heute sagen würde, dass ich nur noch ein Jahr zu leben hätte, würde ich morgen früh anfangen bis spät in die Nacht zu schreiben, um noch einen vernünftigen Roman fertig zu bekommen anstatt mir endlich wieder ein Leben zu besorgen. Es ist ein systematischer Fehler bei mir, dass ich weiß, wie sehr das Schreiben brauche, aber dennoch immer wieder mit dieser eigentlich zementierten Notwendigkeit innere Kämpfe austragen muss, die an die Substanz gehen. Der Ausdruck Agrafie beschreibt die Unfähigkeit, Worte und Texte zu produzieren, obwohl die geistigen und motorischen Fähigkeiten dafür vorhanden sind. Agrafie tritt auf nach Schlaganfällen oder nach Isolationshaft. Es ist ein physisches Problem mit dem Gehirn. Für Schreibblockaden, also die psychische Unfähigkeit, die sich oft auch in körperlichem Unwohlsein beim Versuch des Schreibens manifestiert, gibt es meines Wissens kein Fremdwort.
Ein verwirrter Obdachloser fragt mich nach der Uhrzeit, fügt im selben Augenblick hinzu, dass sie sowieso keine Rolle spiele und ich glaube ihm. Meine Finger schmerzen jetzt bei jedem Buchstaben, den ich tippe, aber das hat auch etwas Positives, es gibt mir mehr Zeit, die Sätze so zu formulieren, dass ich sie mir selbst abkaufen kann.