Hier.
Ich würde ihr gerne erklären, was sie tun kann, wie sie sich selbst davor schützen kann, erneut in eine solche Situation zu geraten, aber eine zehnjährige Drogenkarriere hat die Konzepte Vergangenheit und Zukunft aus ihrem Leben gefräst. Alles, was mehr als ein paar Tage zurück oder mehr als ein paar Stunden in der Zukunft liegt, spielt in ihrem Dasein keinerlei Rolle mehr. Maike wurde durch ihre schlecht getroffenen Entscheidungen in der Vergangenheit auf die pure Gegenwart geworfen, auf ein Leben im Hier und im Jetzt und sie meistert dieses Leben mit einer solchen Bravour, dass ich sie oft sogar ein bisschen um diese Existenzform beneide, auch wenn ich die äußeren Umstände und die Art der Menschen nicht ertragen könnte, die die Routine ihres Tagesablauf bestimmen. Es scheint dennoch so viel menschlicher, wie sie lebt, die Zeit als Faktor spielt in ihren Handlungen und Entscheidungen keine Rolle, während wir Idioten alle an der Vergangenheit kleben und auf die Zukunft große Hoffnungen setzen, nie aber wirklich bei uns ankommen.
Ich erinnere mich an ein Silvester, das ich mit ihr verbrachte. Ich hatte mich selbst eingeladen, weil ich kurz nach der Trennung von meiner Freundin den Jahreswechsel nicht alleine über die Bühne bringen wollte, sie wehrte sich zunächst gegen die Einladung, wiederholte das Mantra, dass es ihr Unglück bringe, wenn sie an diesem Tag nicht alleine wäre. Ich ignorierte ihre Bedenken und fuhr trotzdem zu ihr, weil ich nicht wusste, wohin ich sonst sollte. Um Null Uhr standen wir mit jeweils einer Flasche Bier in der Hand auf dem Balkon ihrer komplett verwahrlosten Wohnung in dieser nicht weniger verwahrlosten Kleinstadt und beobachteten das mickrige Feuerwerk, dass die dort lebenden Menschen zustande brachten. Sie wollte nicht ausgehen, nur vom Balkon aus das Feuerwerk gucken. Nach einiger Zeit fing ich an zu weinen. Sie kam zu mir rüber, umarmte und küsste mich, zeigte auf die explodierenden Raketen und ich sah noch einmal hin und verstand es. In den Minuten, die wir noch dort standen, war das jämmerliche Feuerwerk in dieser Scheißstadt plötzlich das Schönste, was ich jemals gesehen hatte.