Auf dem Dachboden mit den Sternen

„Zum letzten Mal bist Du alles, was ich will und alles, nach dem ich freiwillig fragen würde. Ich schließe diese Gedanken heute Nacht in einen Schrank, in dem sie nur derjenige finden wird, der dazu in der Lage ist, ihrer Spur ganz gezielt zu folgen. Ich studiere weiterhin ungeborene Kinder und ihre Namen auf Magister. Nichts davon überrascht mich, aber das hält mich nicht davon ab, dem Schmerz weiterhin meine Seele in Schlagrichtung vor die Nase zu halten, als hätte ich nie gelernt, wie man den Schutzschild rauffährt. Ich schreibe, also muss ich frontal gegen Wände fahren. Es ist die wichtigste Droge meines Lebens, die einzige, gegen die ich nicht resistent geworden bin.“


Ping-Pong-Echo.

„Ich darf es nicht in Kommunikation gießen, Kommunikation ist bei mir eine Suchtart“, denkt sie und in dem Moment erfasst die Schwerkraft ihre Pupillen und das Drumherum nicht mehr, so dass je zwei gemischte Paare Iris und Pupille in zwei Augäpfeln an die tiefste Stelle kullern und jetzt durch den transparenten Gaumen auf den Belag ihrer Zunge glotzen, den Schlund sehen sie nicht, denn um um die Ecke zu gucken bräuchte es mindestens ein bisschen Kontrolle über die Blickrichtung. „Ah. Endlich etwas Ruhe“, denkt sie. Die Schlacht ist gewonnen, aber jeder Krieg, der etwas auf sich hält, hat bekanntlich mindestens zwei davon. Und dann ruft sie direkt jemanden an, um ihm davon zu erzählen.

„Spar Dir die Erlebnisberichte“, sagt die Stimme am anderen Ende der Leitung.


Herbstskizze

„Was gibts?“, frage ich.

„Ach, eigentlich nichts. Bist du zu Hause?“

Ich überlege, ob ich lügen soll. „Ja“, antworte ich wahrheitsgemäß. Eventuell hätte sie es sonst auf meinem richtigen Telefon probiert und ich hätte den ganzen Tag nicht rangehen können, ohne mich zu verraten. Nicht, dass ich normalerweise ans Telefon gehen würde. Ich habe, wenn es um meine private Einsiedelei geht, keine Probleme damit, zu lügen. Bei einer Lüge ertappt zu werden ist dann schon wieder etwas anderes.

„Könntest du mich vielleicht um halb vier am Bahnhof abholen, wenn ich ganz unverschämt fragen darf?“

Die direkte Tour. Guter Trick. Es hilft bei solchen Fragen, wenn man die zugehörige Selbsteinschätzung gleich mitliefert. Zumindest bei mir.

Was soll ich darauf antworten? Mir schnell eine Ausrede einfallen lassen? Zu anstrengend, ich bin grade aufgewacht, habe die halbe Nacht gesoffen und an einem Stück Scheiße geschrieben, das niemals ein Roman werden wird. Ein Fragment, sozusagen. Irgendwie schreibe ich nur Fragmente.

„Klar. Ich bin da“, antworte ich in einem Ton, der darauf hinweisen soll, dass es mich stört, wenn man mir die Bedingungen diktiert, nach denen ich meine nie vorhandene Zeit zu verbringen habe.

Auf Bahnhöfen auf jemanden zu warten ist eigentlich ein richtig tolles Konzept dieser merkwürdigen Realität. Noch dazu, wenn es Herbst ist. Vielleicht fällt mir deswegen keine Lüge ein. In meiner Phantasie haben die Züge nur wegen der Leute Verspätung, die gerne im Herbst auf Bahnhöfen warten. Vielleicht sind das in Wirklichkeit mehr als man glaubt.

„Super, danke“, sagt sie.

„Kein Problem“, sage ich.

Es ist fast halb drei. Ich fahre besser gleich los. Vielleicht weiß der Zugführer gar nichts von diesen Leuten. Vielleicht ist er neu im Geschäft.


Unbetitelt.

Meine Gedanken sind Schmerzfänger, ich zerbreche unter Erinnerungen. Das sind verflucht gute Erinnerungen, die Gegenwart hat nicht ansatzweise eine Chance, ihnen standzuhalten. Ich wünschte nur, das mit dem Zerbrechen ginge ein bisschen schneller, denn es tut so verflucht weh.

Hundert Päckchen Zigaretten später komme ich nicht zu mir, aber wenigstens halbwegs wieder zu Verstand. Gedankenendlager. Um mich herum nur irgendwelche Menschen, die ich unterträglich finde, aber unterwegs angesammelt habe, nur um die Guten auszusortieren und zu behalten. Die Guten sind seltener als Zehennägel bei Regenwürmern. Im Grunde erzähl ich bloß allen, dass ich hier weg will, damit mich irgendwann jemand anguckt und sagt: „Geh nicht“, denn in Wahrheit habe ich nicht die geringste Ahnung, wo ich eigentlich hin soll.


Hier.

Ich würde ihr gerne erklären, was sie tun kann, wie sie sich selbst davor schützen kann, erneut in eine solche Situation zu geraten, aber eine zehnjährige Drogenkarriere hat die Konzepte Vergangenheit und Zukunft aus ihrem Leben gefräst. Alles, was mehr als ein paar Tage zurück oder mehr als ein paar Stunden in der Zukunft liegt, spielt in ihrem Dasein keinerlei Rolle mehr. Maike wurde durch ihre schlecht getroffenen Entscheidungen in der Vergangenheit auf die pure Gegenwart geworfen, auf ein Leben im Hier und im Jetzt und sie meistert dieses Leben mit einer solchen Bravour, dass ich sie oft sogar ein bisschen um diese Existenzform beneide, auch wenn ich die äußeren Umstände und die Art der Menschen nicht ertragen könnte, die die Routine ihres Tagesablauf bestimmen. Es scheint dennoch so viel menschlicher, wie sie lebt, die Zeit als Faktor spielt in ihren Handlungen und Entscheidungen keine Rolle, während wir Idioten alle an der Vergangenheit kleben und auf die Zukunft große Hoffnungen setzen, nie aber wirklich bei uns ankommen.

Ich erinnere mich an ein Silvester, das ich mit ihr verbrachte. Ich hatte mich selbst eingeladen, weil ich kurz nach der Trennung von meiner Freundin den Jahreswechsel nicht alleine über die Bühne bringen wollte, sie wehrte sich zunächst gegen die Einladung, wiederholte das Mantra, dass es ihr Unglück bringe, wenn sie an diesem Tag nicht alleine wäre. Ich ignorierte ihre Bedenken und fuhr trotzdem zu ihr, weil ich nicht wusste, wohin ich sonst sollte. Um Null Uhr standen wir mit jeweils einer Flasche Bier in der Hand auf dem Balkon ihrer komplett verwahrlosten Wohnung in dieser nicht weniger verwahrlosten Kleinstadt und beobachteten das mickrige Feuerwerk, dass die dort lebenden Menschen zustande brachten. Sie wollte nicht ausgehen, nur vom Balkon aus das Feuerwerk gucken. Nach einiger Zeit fing ich an zu weinen. Sie kam zu mir rüber, umarmte und küsste mich, zeigte auf die explodierenden Raketen und ich sah noch einmal hin und verstand es. In den Minuten, die wir noch dort standen, war das jämmerliche Feuerwerk in dieser Scheißstadt plötzlich das Schönste, was ich jemals gesehen hatte.


Zirkelschluss.

Und dann sitze ich bei dieser Gartenparty und mich gruselt vor dem zur Schau gestellten Spießertum, aber gleichzeitig sehne ich mich genau danach, vielleicht gruselt mich auch eher vor dieser Sehnsucht. Ich selbst habe kein Zuhause, weil: Mein verfluchtes Zuhause, das ist ja kein Ort, das bist einfach Du, und Du sitzt da zwar auch rum, aber das gilt nicht, denn ich darf Dich zur Zeit nicht heimlich knutschen, wenn keiner hinguckt. Deswegen setze ich mich weg, setze mich oben auf dieses Klettergerüst, das ist wie so eine Art von Protest, den keiner versteht. Macht nichts, ich verstehe ihn. „Er muss sich wieder demonstrativ absondern!“, heißt es.

Um halb zehn geht die Sonne unter, der Himmel wird so komisch dunkelblau. Die Zeit zwischen Sonnenuntergang und Nacht hasse ich, und die dauert im Sommer endlos. Ich habe immer das Gefühl, das ist so eine Nicht-Zeit und außerdem Schmerzen in vorderen Bereich hinter der Stirn, die kommen von dem wenigen Schlaf, den ich bekomme und dem vielen Alkohol, den ich mir nehme. Ich denke wieder einmal darüber nach, wie schrecklich die meisten Berufe eigentlich sind. Nehmen wir Steuerberater: Du verbringst Deine Zeit damit, den Menschen dabei zu helfen, dem Staat möglichst trickreich und innerhalb der Grenzen des Gesetzes zu verschweigen, wie viel Geld sie verdient haben. Das machst Du im Grunde jeden Tag. Immer und immer wieder dieselbe Scheiße, jahrelang. Kann das irgendeinen Menschen wirklich erfüllen, der noch ganz dicht ist? Wahrscheinlich schon. Man muss bei jedem Gedanken hinterher noch mal überlegen, wer hier eigentlich der Geisterfahrer ist, das ist wichtig, damit man nicht starrköpfig wird. Und wenn man selbst der Geisterfahrer ist, dann ist es wichtig, abzuwägen, ob man jetzt auf den Standstreifen fährt, sich die Sache noch mal überlegt und umdreht, oder ob man nur deswegen umkehren würde, um mit dem Strom zu fahren, aber eigentlich doch in genau die Richtung will, in die man unterwegs ist. Schreibe ich eigentlich immer dasselbe oder fühlt sich das nur so an? Wahrscheinlich bin ich im Grunde gar nicht so weit weg von dem verdammten Steuerberater.