Kleines Shitstormlexikon für Einsteiger.
Professioneller Shitstormstarter.
Mensch vom Typ empörter Blogger aus dem Großthemenbereich Internet und Gesellschaft. Ist drei bis viermal pro Tag “völlig sprachlos und entsetzt” über kleinere Nichtigkeiten und verlinkt diese tatkräftig, immer in der Hoffnung, dass die Retweets seiner Anhänger sich zu einem echten Shitstorm ausweiten und ihm noch mehr ergebene Fans bringen, die ihn irgendwann in der Zukunft als einflussreichen Internetaktivisten oder investigativen Journalisten feiern, so dass er in den alten Medien, die er eigentlich massiv ablehnt und zum Sterben verurteilt sieht, neben Politikern sitzen und das Netz erklären darf. Der professionelle Shitstormstarter lebt von der Aufmerksamkeit seiner Zuleser. Damit ihm diese gewogen bleibt, ist er dazu verdammt, permanent nach der nächsten Sau zu suchen, die durchs Dorf getrieben werden kann, was ihn dazu zwingt, jede kleinste Meldung und Nichtmeldung, die er irgendwo verlinkt sieht, auf eventuell vorhandenes rassistisches, antifemininistisches, fortschrittsfeindliches, und politisch unkorrektes Empörpotential abzuklopfen.
Mitläufer.
Hat meist nur ein paar hundert Follower auf Twitter und selbst nicht viel zu sagen, tritt mit Anzug-Profilbild und Echtnamen auf, weil ihm teuere Social Media-Experten im Fortbildungs-Seminar erklärt haben, dass man den meisten Erfolg in Sachen Personal Brand Building hat, wenn man authentisch rüberkommt. Eine Meinung abseits des Mainstreams ist ihm fremd, er hinterfragt grundsätzlich nur selten Dinge und ist damit der perfekte Motor jedes guten Shitstorms. Der Mitläufer retweetet die Empörung des professionellen Shitstormstarters mit Freude, weil er glaubt, dadurch ein kleines Stückchen dessen vermeintlichen Glanzes und Ruhms abhaben zu können. Darüber hinaus zählt für ihn vor allem der interaktive und mit nur einem einzigen Klick zu bewerkstelligende Event- und Protestcharackter eines Shitstorms, schließlich war er selbst ganz vorne mit dabei, damals, als (irgendwas mit einem Sack Reis).
Trittbrettblogger.
Erscheint erst dann auf der Bühne, wenn das Unwetter schon in vollem Gange ist. Wartet geschickt ab, bis sich der Shitstorm zu durchschlagender Wucht formiert hat, aber schon knapp vor den Peak ist, um dann seinen bereits vorformulierten und keywordoptimierten Artikel zum Thema zu publizieren, vor dem geistigen Auge die in die Höhe schnellenden Trafficstatistiken, die er sich davon für sein kleines Blog erhofft, in dem er selten eigene Akzente setzt, das aber SEO-technisch perfekt aufgestellt ist und ihm daher jeden Monat ein paar Kröten über Google Ads einbringt. Hat er seinen Artikel veröffentlicht, schießt er ihn mit den nötigen Hashtags versehen mitten in den Shitstorm, dem er damit im Idealfall für ein paar Stunden noch einmal neues Leben einhaucht. Am nächsten Tag formuliert der Trittbrettblogger oft ganz stolz einen Nachfolgeartikel darüber, wie sein Server aufgrund der vielen Zugriffe fast durchglühte, den aber dann meist nur noch ein paar verirrte Spambots lesen und kommentieren.
Medienbegleitung.
Meist etwas später am Start als der Trittbrettblogger, ebenfalls motiviert von der Erkenntnis, dass sich mit Shitstorms massiv viele Leser auf die eigenen Präsenzen locken lassen, die in ihrem Wutrausch scharf darauf sind, sich noch weiter hochzujazzen. Typische Vertreter der Medienshitstormbegleitung wie Spiegel- oder Welt Online beschäftigen ausgewiesene Digital Natives, die im Auftrag des seriösen Journalismus noch einmal ausführlich ausrollen dürfen, worüber sich das Internet echauffierte und dafür von den in der Regel etwas weniger empörungsfreudigen Lesern der dazu gehörenden Printausgabe für die Belanglosigkeit ihrer Artikel in den Kommentaren nicht selten eins bis drei auf die Mütze bekommen. Das macht der Medienbegleitung aber nichts aus, denn Erfolg misst sich in ihren Metier grundsätzlich in Klicks und Reaktionen, egal welcher Art. Im Idealfall kann ein typischer Shitstorm durch die Medienbegleitung sogar in einer Klickstrecke (“die lustigsten Tweets zum Thema”) untergebracht werden, das erhöht zusätzlich die Anzahl der Impressions.
Schnelllebigkeit.
Erkennungsmerkmal jedes guten Shitstorms. Wer nicht direkt im Moment der Welle auf Twitter abhängt oder Admin der getrollten Präsenz ist, wird in der Regel von einem Shitstorm so gut wie nichts mitbekommen (es sei denn in Powerpoint-Slides von PR-Menschen mit Titeln wie “Die schlimmsten Internetpannen von Unternehmen”), denn nach 24 Stunden ist er in der Regel sogar von den Shitstormern selbst längst wieder vergessen. Versuche, ein paar Tage nach dem Shitstorm den oft natürlich nicht behobenen Missstand im Kern noch einmal detailliert zu betrachten oder sich nachhaltig mit dem zu Grunde liegenden Problem auseinandersetzen, ernten in fast allen Fällen nur ein müdes Gähnen oder verwirrte Blicke.
Paradoxe Beweismittelstreuung.
Essentielles und paradoxes Ritual jedes Shitstorm. Das möglichst breite Streuen des “schockierenden Beweismaterials” dient dabei gleichzeitig zur Legitimation der Empörung wie auch zu deren Erzeugung. Sollte das Video, gegen das man lautstark angeht, weil es zum Beispiel unter Gewaltverherrlichungsverdacht steht und vor dem Shitstorm drei Klicks hatte, vom Ersteller aufgrund der vielen erbosten Kommentare gelöscht werden, findet sich in einem guten Shitstorm immer jemand, der es auf sieben anderen Accounts wieder hochlädt, damit sich die Gemeinde in Ruhe weiter darüber aufregen kann, wie schlimm das Ganze ist und dass soetwas wirklich nicht in die Öffentlichkeit gehört. In ähnlicher Manier werden Artikel aus Lokal- oder Special-Interest-Publikationen auf Papier, die eigentlich keiner liest, eingescannt und auf alle Kanäle verteilt. Damit erzeugt jeder Shitstorm sein überdreht keifendes Publikum während des Akts der Empörung selbst, oder klagt, anders ausgedrückt, über den umfallenden Sack Reis, der niemanden interessiert hätte, hätte er ihn nicht selbst unter sich wiederholenden, lautstarken “Skandal”-Rufen umgeworfen.
Doppelmoral.
Dringend notwendiges geistiges Utensil zur begeisterten Teilnahme an Shitstorms, das bewerkstelligt, dass man die Mohammed-Karikaturen mit der Bombe als Turban mutig und provokativ finden kann, aber bei einem Werbespot, der mit Mann-Frau-Klischees spielt, einen Hals bekommt. Analog kann man mittels des für Shitstorms aller Art sehr hilfreichen Werkzeugs Doppelmoral gegen Copyright sein, und trotzdem komplett ausflippen, wenn einem ein Tweet geklaut wird oder total für Meinungsfreiheit im Netz und gegen Zensur sein, aber die Leute aufhetzen, wenn jemand einen Artikel schreibt, der nicht mit der Mainstreammeinung einhergeht und dann begeistert darüber twittern, wenn dessen Webseite vom wildgewordenen Mob gehackt wird.