Konzert.

Ich sitze in einem Zelt. Ich sitze in einem Zelt an einem See in einem Wald. Ich sitze in einem Zelt an einem See in einem Wald, es ist stockfinstere Nacht und ich bin alleine hier. Aber ich bin nicht alleine hier. Viele von denen, die sonst noch hier sind, kann ich hören, sie sind überall um mich herum. Ich werde ihnen die ganze Nacht lang zuhören, denn sonst habe ich hier nichts zu tun. Zuerst höre ich die Enten und Schwäne, die in einer großen Gruppe irgendwo auf dem See unterwegs sind. Nach einiger Zeit bemerke ich, wie sich das konstante Zirpen von Grillen in das immer wieder anschwellende und verstummende Geschnatter mischt.

Ich habe am frühen Abend einen Rucksack mit einem Schlafsack darin und ein Zelt in mein klappriges Auto gepackt und bin von Hamburg aus etwa 60 Kilometer nach Norden gefahren. Auf der Karte entdeckte ich während der Fahrt mitten im Nirgendwo ein Naturschutzgebiet mit einem See, an den ich so nah wie möglich heranfuhr. Dort parkte ich das KFZ, schulterte Rucksack und Zelt und wanderte eine halbe Stunde durch den Wald um den See herum. Als ich eine geeignete Stelle direkt am Ufer gefunden hatte, baute ich das Zelt auf, las einige Zeit gelangweilt in einem Buch und wartete darauf, dass es dunkel wurde. Dann wurde es dunkel.

Der weitaus größere Teil meiner Gesellschaft schweigt die ganze Nacht: Weberknechte, Spinnen, schwer identifizierbare Insekten verschiedener Arten und Nacktschnecken belagern in Massen mein Zelt. Still ist es zu keiner Zeit an diesem Ort, im Gegenteil herrscht eine absolut erstaunliche Geräuschkulisse. Ab etwa 23 Uhr folgt der psychedelische Teil des akustischen Erlebnisses: Verschiedene Gattungen von Fröschen, die am Rande des Wassers Töne erzeugen vermischen sich mit einer nachtaktiven Schaferde, die auf der anderen Seite des Sees ihr merkwürdiges Unwesen treibt. Das einander immer wieder überlagernde Wechselspiel der Stimmen der Frösche und der Schafe, oft unterbrochen von undefinierbaren Lauten und gelegentlich dezent untermalt vom Rauschen einer weit entfernten Bahn, zieht sich über Stunden.

Eineinhalb Stunden lang ist es etwas ruhiger. Nur ein paar leise summende Mücken, die einen Weg in das Zelt gefunden haben, durchbrechen die Stille. Ich dämmere etwa eine Stunde verstört vor mich hin.

Um etwa vier Uhr Morgens beginnt die Hauptvorstellung. Es sind eine gefühlte Million Vögel, die in Dolby Surround spielen. Sie spielen verdammt komplexe Songs mit verschachtelten Strukturen, die Gruppen von Akteuren und Einzelinterpreten wechseln in Verlauf der vierstündigen Darbietung permanent. “Das müssen mindestens hundert verschiedene Tiere sein, die da draußen parallel Laute erzeugen”, denke ich nach einiger Zeit, bin mir etwas später aber nicht mehr sicher, ob mein Verstand mit dieser Einschätzung nicht doch übertreibt. Ich höre mir die komplette Show an, es ist eines der surrealesten Erlebnisse, die ich seit langer Zeit hatte, obwohl es doch eigentlich eines der natürlichsten Dinge ist, die man erleben kann. Ich stelle mir beim Zuhören vor, wie die Vögel aussehen, die diese so unterschiedlichen Gesänge von sich geben, bei den Sopranisten stelle ich mir zierliche, bunte, kleine Tierchen vor, die in Scharen in den Ästen der Bäume vergnügt nebeneinander pfeifen, die Bassstimmen machen in meiner Phantasie dicke, grimmige Einzelgänger im Unterholz. Oft ist auch eine Art von Percussion in den Vogelstimmen, surrende, scharrende Laute, die wenig Melodie haben. Meine Lieblingsinterpreten unter vielen eigentlich viel ausführlicher zu erwähnenden sind das Federvieh, das etwa eine halbe Stunde lang in verschiedenen Modulationen zwischen ganz anderen Gesängen immer wieder ein Geräusch macht, das klingt, als hätte man dem Miauen einer Katze jeweils den ersten und letzten Laut entfernt (er bekommt den Spitznamen “Halbe Katze”) und ein herausragender Sopran, der nur ein paar Minuten lang ein Solo vorträgt, dessen Melodie mir weit über diese Nacht hinaus im Gedächtnis bleibt, weil es in seiner Schönheit alles andere übertrifft, was ich in dieser Nacht zu Ohren bekomme.

Niemand weiß, dass ich hier rausgefahren bin. Bis ich am frühen Abend beim Aufräumen über mein in den letzten Monaten zu selten genutztes Zelt gestolpert bin, wusste ich selbst nichts von der Idee. Vielleicht bin ich tatsächlich nur deswegen gekommen, um, zusammen mit dem vielen anderen niederen Getier, das selbst keine Töne erzeugt, diesem Konzert zu lauschen. Je länger ich konzentriert zuhöre, desto mehr glaube ich, dass ich genau deswegen hier bin.

Gegen acht Uhr geht die Sonne hinter ein paar tiefhängenden Wolken auf. Ich krieche durch die Öffnung nach draußen und blicke auf das Schilf und den See, der keine zwei großen Schritte von mir entfernt liegt, der wirklich eindrucksvolle Teil der Vorstellung ist inzwischen vorbei. Eine einsame Möwe zieht im Tiefflug über das Wasser und kreischt dabei langgezogen, während ich eine Zigarette rauche. Das Kreischen der Möwe klingt extrem vergnügt, als würde sie voller Erstaunen über sich selbst rufen: “ICH FLIIEGE, ALTER, ICH FLIIIIIEGE!”

Ich packe meine wenigen Sachen, rolle den Schlafsack zusammen, stecke ihn wieder in die Plastiktüte und dann in den Rucksack. Ich ziehe die Heringe aus dem Boden, verstaue sie in der kleineren Tüte, befreie die Stangen vom Zelt, falte sie zusammen und stecke sie in die große Tüte, platziere das Überzelt erneut sorgfältig über dem Zelt, falte das Paket sorgfältig mehrmals und schaffe es gerade so, den ganzen Kram in die Zelttasche zu stopfen. Ich habe Glück: Als ich den Weg zum Auto fast beendet habe, beginnt es in Strömen zu regnen. Zu Hause angekommen, breite ich den im Laufe der Nacht außen leicht feucht gewordenen Schlafsack aus, um ihn zum Trocknen aufzuhängen. Eine winzige, offenbar noch sehr junge Schnecke, die vom See mit mir nach Hamburg gereist ist, fällt auf den Küchenboden und will sich, so schnell sie kann, irgendwo verkriechen. Sie kann nicht besonders schnell. Ich sammle sie auf und trage sie vorsichtig runter in den Garten. Wir sind Komplizen.