Der Rest von Hamburg: Hamm.

Ich wohne gerne in Hamm. Der Stadtteil ist ein bisschen rau, aber nicht auf eine Weise heruntergekommen, wie man sich einen eher unpopulären Stadtteil in einer deutschen Großstadt vorstellt, ganz im Gegenteil. Hamm ist ehrlich. Nachts auf der Straße begegnet man eventuell einer verwirrten alten Dame mit Rollator, die kurzzeitig den Weg nach Hause vergessen hat oder einem Familienvater, der nach einem Streit mit seiner Frau den Hund noch mal ausführt, um sich Luft zu machen, bevor er wieder nach Hause geht, um sich wie selbstverständlich wieder mit ihr zu versöhnen. In meiner Wohngegend brauche ich keine Clubs voll mit Hipstern und elektronischer Musik, keine alternativen Wohnprojekte, in die sich sympathische Gestalten zurückgezogen haben, die beschlossen haben, ihr Gehirn fortan zu nicht mehr als der Verbesserung der Kunst des Rollens eines Joints und fortwährend ergebnislosen Gesprächen über die Vorraussetzungen einer Neuausrichtung der Gesellschaft einzusetzen oder Bioläden, in denen man Teewurst kaufen kann, die sich von echter Teewurst nur insofern unterscheidet, dass sie keine ist, sondern ein in jeder Hinsicht täuschend echtes Sojaprodukt. Will ich das (und das will ich, wie ich gestehen muss, durchaus oft), dann bleibe ich einfach am Abend in der Schanze, in der unser Büro lokalisiert ist. Von meinem inzwischen drei Jahre währenden Aufenthaltsabo in Hamm bekomme ich dagegen regelmäßig Ruhe, ein paar leider nur schlecht sortierte, aber trotzdem nicht zu unterschätzende Supermärkte und Tankstellen in Katzensprungnähe, einen Park, in dem ich alle paar Tage zwei Runden joggen gehen kann, eine bezahlbare Wohnung und keine allzu merkwürdigen Erlebnisse und Begegnungen auf offener Straße an den Tagen, an denen ich mir nicht bewusst aussuche, merkwürdige Erlebnisse und Begegnungen haben zu wollen. Die paar wenigen Ausgehlokalitäten in Hamm (die finstere Namen wie „Bazille“ tragen und von außen selten gut einsehbar sind, Sie kennen diese Art von Kneipen, es sind die, die nur von den alten Knackern aufgesucht werden, die mit 50 immer noch Single sind, vorwiegend deswegen, weil sie seit dreißig Jahren in diesen Kneipen mit ihren ebenso gestrickten Kumpels den Freuden des Alkohols ungehemmt zusprechen) sollte man dringend vermeiden. Wenn man sich in der Ecke unbedingt auf ein bis sieben Gläschen Astra oder Holsten verabreden will, besucht man am Besten die per Pedes schnell erreichbare Fabrik in Hasselbrook und bekommt dort das nicht sonderlich stylishe, aber rustikal-solide Ambiente einer umgebauten, alten Bahnhofshalle inklusive im Sommer geöffnetem Biergarten geboten, wo es sich zuweilen ganz gut aushalten lässt. Vermutlich wohnen in Hamm sehr viele Rentner, zumindest deuten Unternehmen wie der Laden mit dem Schriftzug „Seniorenümzüge“ über dem Schaufenster des einzigen zugehörigen Raums, in dem nur ein karger Schreibtisch und ein Computer stehen, darauf hin. An einem durchschnittlichen Tag auf der Straße sieht man dagegen nur normal viele Rentner, das öffentliche Leben, sofern vorhanden, ist eher eine ganz gewöhnliche Mischung aus Menschen, die irgendwie bodenständiger wirken als die Leute im Rest Hamburgs. Vielleicht bleiben die Rentner ja lieber in ihren Wohnungen. Ich persönlich tippe (andererseits jetzt auch schon über ein Jahr) darauf, dass „Seniorenumzüge“ bald wieder geschlossen wird, denn es ist nie jemand in dem Laden. Er ist wie ein Gespensterladen, nicht einmal Mitarbeiter habe ich dort jemals beobachtet, obwohl ich jeden Tag mehrfach den gegenüberliegenden Bürgersteig entlanggehe. Sollte er wirklich geschlossen werden, so kann das eigentlich nur bedeuten, dass die Zahl der Senioren in Hamm überschätzt wurde und/oder dass sie hier einfach nicht wegziehen wollen. Letztes könnte ich verstehen. Ich wüsste auch nicht, wo in Hamburg ich stattdessen wohnen wollte.

Von den zwei gut erreichbaren U-Bahnhaltestellen, mit denen wir glücklicherweise gesegnet sind (Klammer Eins: gesegnet deswegen, weil es auch Gegenden in Hamburg gibt, die gar keine Bahn in Fußnähe haben, so dass man sich Platz im Omnibus mit nicht sonderlich sympathischen Zeitgenossen teilen muss, was aber vielleicht auch nur eine Äußerung meiner Omnibus-Phobie ist) (Klammer Zwei: sie liegen beide etwa in gleicher Entfernung von meiner Wohnung, Hammer Kirche ist ein paar Minuten schneller zu erreichen, von dort fährt man dann aber auch eine Station mehr in die Stadt, d.h. man passiert Burgstraße, die zweite Station, was den Zeitvorsprung wieder ausgleicht, woraus sich für mich die oft wiederkehrende Frage ergibt, an welcher Station ich aussteige – ich nehme zumeist Burgstraße, denn die Station ist schöner) ist man relativ schnell überall. In unter fünf Minuten, mit einer Ansage „Zurückbleiben bitte“ und in einer Haltstelle gleitet der Fahrgast unter der Stadt zum Verkehrsknotenpunkt Berliner Tor, von dort mittels verschiedener S- und U-Bahnlinien in etwas mehr als 15 Minuten fast überallhin in das Gewimmel der hektischeren Stadtteile Hamburgs. Es ist verkehrstechnisch komfortabler, in Hamm zu wohnen als etwa in der klassischen Wohngegend Barmbek, die nördlicher liegt. Zumindest bilde ich mir das ein und ich habe nicht vor, mir diese hübsche Illusion zu nehmen, indem ich nachgucke, wie schnell man von Barmbek im direkten Vergleich mit Hamm tatsächlich verschiedenen Orte der Stadt zu erreichen in der Lage ist.

Die dicke Frau hinter dem Tresen im Edeka Witt (unserem zentralsten, aber auch kleinsten Supermarkt), über den alle Arten von Backwaren wandern, trägt oft riesige goldene Ohrringe zu ihrem meist ehrlich wirkenden Servicelächeln, im Regal hinter ihr sind alle Brotsorten aufgereiht, die man sich vorstellen kann inklusive laktosefreiem Biobrot und „Angeschobenes“ (ich kann mir nicht vorstellen, was „Angeschobenes“ ist oder woher es diesen Namen hat [ja, natürlich könnte ich das einfach googlen, das ist allerdings an der Stelle nicht der Punkt, da dies ein literarischer Text ist und es echt scheiße wird, wenn die Leute in den Büchern der Zukunft einfach alles mit ihren Smartphones googlen, was sie nicht wissen], aber es sieht interessant aus). Ein Käsecrossaint kostet 1,20 €, ein Becher nur im Notfall zu empfehlender Kaffee nur wenig mehr. Der Pfandautomat für die Mehrwegflaschen, den es hier gleich in zweifacher Ausführung gibt, ist robust, aber ziemlich laut und hässlich. Er ist keines von diesen eitlen Modellen mit Gummiförderband, hübschem Frontend und womöglich noch einem „Spenden“-Button, die sich nach jeder zweiten Eingabe wichtig machen und irgendeine eine Störung vermelden müssen. Die Shell-Tankstelle nebenan schließt um 22 Uhr. Wenn man des Nachts also plötzlich auf die sowieso meist dumme Idee kommt, dass Alkohol jedweder Art jetzt doch noch eine ganz nette Sache wäre, dann muss man in aller Regel ein Stück laufen, es sei denn, es ist Wochenende, dann hat der Kiosk an der Burgstraße möglicherweise noch geöffnet, sofern die U-Bahnlinie noch nicht auf den weniger häufigen Rhythmus umgestellt hat, was etwa gegen 1:30 Uhr geschieht. Die Sache mit dem „ein Stück laufen“ sorgt vor allem im Winter und bei Regen (letzteres deutet im Kontext Hamburg darauf hin, dass „ziemlich oft“ auch eine angemessene Formulierung wäre) dafür, dass man meist doch lieber zu Hause bleibt und sich noch einen Tee ohne Rum macht. Der Verkäufer am Kiosk in der Burgstraße ist eine Art Autist, mindestens aber mit sehr seltsam verschalteten Synapsen ausgestattet. Er macht bei jedem Kunden irgendwelche bizarren Sachen, die nicht lustig-spontan, sondern eher zwanghaft auf mich wirken. Mal singt er Led Zeppelin und verdreht dabei Augen, so dass man nur noch das Weiße sieht, mal nennt er absichtlich einen falschen Preis und lacht dann über seinen vermeintlich gelungenen Witz. Die Modulation seiner Stimme klingt so, als hätte er erst vor ein paar Monaten sprechen gelernt. Die FAZ kriegt man nur an ein paar Stellen in Hamm, Mopo und Bild überall. Bei Jannys Eis kann man für zwei Euro zwei Kugeln Eis in der Waffel kaufen, optional mit Giga-Gummiüberzug. Ich vermute, dass ich der Einzige bin, der Giga-Gummiüberzug nimmt und das Zeug genau deswegen diesen ekelhaften Beigeschmack hat, als wäre in dem gelben Plastiktopf noch immer dieselbe Portion davon, die schon seit drei Jahren zum Einsatz kommt. Der Beigeschmack ist im Vergleich zu dem irgendetwas in mir auslösenden Hauptgeschmack aber dann doch nicht stark genug, um mich davon abzuhalten, jedesmal wieder zwei Kugeln Zitrone mit Giga-Gummiüberzug von dem Burschen zu ordern, den ich fälschlicherweise für Janny gehalten habe, bis ich herausfand, dass Jannys Eis eine Kette ist. In Hamm stehen die beiden hässlichsten Kirchen, die ich jemals gesehen habe. Sie wirken, als hätte man versucht, Hybriden aus 70er-Jahre-Hochhausästhetik und klassischen Kirchenformen zu erschaffen und sie tun den Augen und der Seele weh, wenn man sie anguckt. Der Park ist nicht außergewöhnlich, aber durchaus für Spaziergänge, Jogging und Grillen, ergo die gewöhnliche Nutzung eines Parks, verwendbar. Irgendwer lungert oder läuft eigentlich immer im Park herum, in einer an den Park angrenzenden Straße gibt es einmal die Woche einen kleinen Markt. Ich habe mal grünen Käse auf dem Wochenmarkt gekauft, der Käse war grün, weil irgendein Pesto mit enthalten war und er lag so lange ungegessen in meinem Kühlschrank, bis er zu schimmeln anfing, was leider fatal war, da man den Schimmel aufgrund der Farbgleichheit mit dem Käse mit nur oberflächlichem Blick nicht als solchen identifizieren konnte, was zu einem verzogenen Gesichtsausdruck, einem schnellstmöglichen Ausspucken inklusive auftretendem Würgereflex, gefolgt von Flüchen bei dem Versuch führe, ein Stück davon zu konsumieren. Arno Otto Schmidt ist in Hamm geboren und der Autor des unlesbarsten und gleichzeitg unhandlichsten und teuersten Buches, das ich jemals erworben habe. Ich habe es mehr als zehn Mal versucht, kam aber nie weiter als bis Seite 220 und ich lese eigentlich vorwiegend und mit viel Spaß Literatur, die als sehr schwierig gilt, aber dieses Ding ist eine verdammte Zumutung. Falls mir mal jemand begegnen sollte, der Zettel’s Traum komplett gelesen hat, werde ich die Person ohne weitere Fragen heiraten.

Hamm-Nord, wo das Haus verortet ist, das meine bescheidene Zweizimmerwohnung enthält, liegt oberhalb von Hamm-Süd, sowohl in zweifacher Hinsicht geographisch (das heißt, wie schon am Namenszusatz abzulesen, nördlich, gleichzeitig aber auch auf einem Berg) als auch sozial. Hamm-Süd ist deutlicher ein Industrieviertel als Wohngebiet, eine hohe Zahl von Gebrauchtwagenhändlern und Werkstätten haben sich hier niedergelassen, genau wie eine an der Gesamtbevölkerungszahl gemessen höhere Menge Gestalten, mit denen man besser keinen Ärger sucht. Es riecht dort immer nach Kaffee wegen der Tchibo-Rösterei, in manchen Blocks wirklich jeden Tag von Morgens bis Abends, was gleichzeitig ganz wunderbar und extrem irritierend ist, da man das Gefühl nicht los wird, mit jedem Atemzug einen ordentlichen Schluck Koffein zu sich zu nehmen. Man kann in Hamm-Süd gute Fotos machen und an der „Hammer Grillstation“ (Hammername!), die zwar nicht aussieht, als würden dort Hygienevorschriften eine große Rolle spielen, dafür aber umso großartiges Zeug verkauft, eine Menge auf verschiedenste Arten zubereiteter toter Tiere essen, wenn man zu dem Personenkreis gehört, der das tut, genau wie beim Griechen „Der Grieche“, dessen naturgemäß ebenfalls auf Fleisch spezialisiertes Angebot die bizarrsten Portionsgrößen hat, die man sich vorstellen kann (und ich kann mir wirklich viel vorstellen). Zumindest war es vor ein paar Jahren so, dass mein Magen, wenn ich dort einen Kinderteller Gyros bestellte, auch dann irgendwann die Waffen streckte, wenn ich mich den restlichen Tag extra ausgehungert hatte. Nicht unweit davon, in der Süderstraße, befindet sich der Straßenstrich, der, wenn man dem kleinen Stadtteilblättchen glauben darf, das manchmal im Postkasten liegt, für einiges an Diskussionsstoff unter den Einwohnern von Hamm sorgt. Wenn man nach Einbruch der Dunkelheit mit dem KFZ nach Hause unterwegs ist und eben jene sehr lange Straße durchqueren muss, dann winken einem in regelmäßigen Abständen (es ist natürlich logisch, dass sie sich nicht nebeneinander stellen, denn dann würden sie sich direkte Konkurrenz bei der Jagd auf Kunden machen [wohingegen wohl keiner, der solche Angebote nutzt, ein zweites Mal anhalten und eine eben eingesammelte Dame wieder aus dem Auto bitten würde, weil er fünfhundert Meter eine andere gesehen hat, die ihm dann doch mehr zusagt], aber auch traurig, denn so stehen sie permanent allein dort) halbnackte Frauen auf hochhackigen Schuhen, dem Aussehen nach aus osteuropäischen Ländern stammend (die Frauen, nicht die Schuhe), vom Fahrbahnrand zu und man winkt dann am Besten einfach freundlich zurück und fährt weiter bis zum Kreisel, nimmt dort die dritte Ausfahrt und ist fast schon wieder im oberen Teil von Hamm. Die Häuser in Hamm-Süd sind, genau wie die in Hamm-Nord, überwiegend aus roten Backsteinen. Die Backsteine machen es irgendwie leichter, sich vorzustellen, wie der ganze Stadtteil gebaut wurde, wie die Leute bei jedem Haus Ziegel auf Ziegel gestellt haben, nachdem Hamm im zweiten Weltkrieg zum zweiten Mal fast vollständig zerstört wurde (das erste Mal haben es die Franzosen niedergebrannt, um besser auf die Russen schießen zu können, die kurz nach 1800 anrückten, und ich weiß nicht genau, was die Franzosen hier verloren hatten oder warum die Russen anrückten, aber ich mag die Geschichte von Hamm und bin mir sicher, dass es auch dann wieder aufgebaut würde, wenn es noch weitere siebzehnmal zerstört würde, beim nächsten Mal wäre ich selbst dabei – es passt irgendwie zu Hamm und dem typischen Hammer, der sich nicht so leicht aus der Ruhe bringen lässt, dass so ein bisschen Niederbrennen und Wegbomben innerhalb eines Zeitraums von 150 Jahren dem Stadtteil nichts anhaben konnte).

Kaninchen haben den kompletten Garten des Hauses untergraben, in dem ich wohne. Hier im Hamm leben überall wilde Kaninchen, ich habe nie verstanden, was die zum Teufel mitten in der Stadt wollen, aber es scheint ihnen gut zu gehen. Wenn man auf den Balkon geht, kann man im Garten immer Kaninchen sehen, die augenscheinlich irgendwelche komplexen Pläne zur weiteren Eroberung des Stadtteils aushecken. Ansonsten sehe ich Bäume, ein Haus gegenüber und keine Straße, denn die läuft auf der anderen Seite meines Hauses entlang. Als mich kürzlich eine alte Bekannte zum ersten Mal hier besuchte, war sie sehr verwundert, dass es bei mir trotz geöffneter Balkontür so still ist. Das hätte sie sich bei einer Wohnung mitten in Hamburg nicht vorstellen können, sagte sie. Konnte ich auch nicht, bevor ich nach Hamm zog.