Keimling (V)
Es begann dieses eigentümliche Schauspiel, das immer dann stattfindet, wenn sich zwei Menschen treffen, deren Vorstellungen von ihrer künftigen Beziehung unsymmetrisch ist: Ein lustiger und gleichzeitig tragischer verbaler Tanz aufeinander zu und voneinander weg. Immer wenn David etwas gesagt und Silvia dem zustimmt hatte (und das tat sie auffällig oft), dann konnte man damit rechnen, dass David damit reagierte, im nächsten Moment das Gesagte zu relativieren, manchmal sogar weiterzuspinnen, um es am Ende ganz zurückzunehmen, um die von ihr konstruierten Gemeinsamkeiten zwischen den Beiden wieder zu dekonstruieren. Manchmal legte sie sogar auch diese Schritte noch zurück, um wieder aufzuholen: “So habe ich das noch gar nicht betrachtet, aber es stimmt schon”, sagte sie dann etwa. Ich beobachtete das Treiben eine Stunde lang, dann brachte er es selbst zur Sprache, als sie für einige Minuten nach unten gegangen war, um an einem Automaten eine neue Packung Zigaretten zu ziehen.
“Was will diese Frau verdammt nochmal von mir?”, sagte er, mich mit großen Kinderaugen anguckend, als wäre er zwölf Jahre alt und hätte noch nie etwas von Beziehungen, Liebe, Sex und Ähnlichem gehört. “Bist Du bescheuert? Sie steht ganz offensichtlich auf Dich”, erklärte ich. Es machte ihm Angst. Er war der Typ, der am liebsten alles in seinem Leben selbst unter Kontrolle behielt. Er plante, er überlegte, er tat nichts unkontrolliertes, er rauchte nicht und rührte keinen Alkohol an. Alles, was ihm wichtig war, war, seinem Lebensplan zu folgen und dieser sah keineswegs eine neue Beziehung oder gar nur Affäre vor (tatsächlich schien ihm dieses zweite Konzept noch völlig unverständlicher). Er überlegte kurz und sagte dann: “Hilf mir, Marc. Halt sie mir vom Hals, Du weißt doch, wie das geht, oder?” “Was soll ich denn Deiner Meinung nach tun?”, fragte ich. “Erfinde irgendwas über mich. Das kannst Du doch, oder? Geschichten erfinden. Du bist doch der Geschichtenerfinder. Erzähle Anektdoten über mich, die sie abstoßen.” Ich lachte. “David, dazu braucht es keine große Erfindungsgabe. Aber wenn Du das wirklich willst, dann helfe ich Dir gerne da raus.” Es klingelte an der Tür. Sie war zurück.