Der Läufer.
„Nicole spürt den Schnee unter ihren Füßen, sie spürt, wie ihre Körpertemperatur den gefrorenen Regen ein klein bisschen schmelzen lässt, wenn sie mehr als eine Sekunde an der selben Stelle verharrt. Und dann rennt sie. Sie rennt schnell, plötzlich und ohne nachzudenken, sie denkt so wenig nach, dass sie blindlings in den Wald läuft, ohne auch nur einen Gedanken an die bösen Jungs zu verschwenden, die sich dort manchmal aufhalten. Die Vergewaltiger. Ihr Vater hat sie immer vor den Vergewaltigern gewarnt, ihr ausführlich alle Schrecken beschrieben, die sie erwarten würden, wenn sie die Kerle erwischen, so ausführlich, dass sich Nicole manchmal fragt, ob ihr Vater nicht früher auch ein Vergewaltiger gewesen sein könnte.
Warum Nicole durch den Schnee und in den Wald läuft, warum sie keine Schuhe trägt, das erfahren wir nicht, denn wir steigen ganz unvermittelt in die Geschichte ein, vielleicht aber weiß sie es auch selbst nicht, denn während sie dort durch den frühen Abend läuft, wird das Rennen fast zu einem Selbstzweck. Ihr Haare fliegen durch die Luft, ihr Herz schlägt immer schneller, Muskeln spannen sich an und entspannen sich wieder und irgendwann ist sie an dem Punkt angelangt, an dem sie eigentlich nicht mehr weiterlaufen kann, an dem sie hinfallen, einen Fehler machen müsste. Aber Nicole rennt einfach weiter, sie nimmt diesen Punkt, ohne seine Existenz auch nur mit einem kleinen Wimperzucken anzuerkennen. Bald hat sie das Waldstück halb durchquert, schon kann sie das große, weite Feld dahinter sehen. Und über dieses Feld läuft sie jetzt schon, während Du hier sitzt und Dir Gedanken über Dinge machst, die vielleicht irgendwann in der Zukunft einmal passieren könnten. Sie sie Dir an, Bernd, gleich ist sie gänzlich aus Deinem Blickfeld entschwunden. Zieh Dir Deine verdammten Schuhe aus. Und mach wenigstens ein paar Schritte, wenn Du schon nicht zum Läufer geboren bist.“
„Ich habe Angst“, sagte Bernd. Er behielt seine Schuhe aus und starrte weiterhin in das Kaminfeuer, das hier drinnen den Winterabend erwärmte. „Dann wirst Du nie irgendwo ankommen“, sagte ich. „Das Laufen führt zu einem Ziel, es ist in Wahrheit kein Zweck an sich. Nicole wird an ihrem Ziel ankommen, auch wenn sie vielleicht noch nicht weiß, was oder wo dieses Ziel ist. Aber Du wirst ewig nur laufen. In Deinen Gedanken.“
„Ich weiß das“, sagte Bernd. Und dann schwiegen wir für den Rest des Abends und tranken unseren Wein.