Traumsequenzen (VI)
Ich bin angeklagt, bei meiner Magisterprüfung geschummelt zu haben, der Titel soll mir aberkannt werden. Mein damaliger Professor H. ruft mich an und zu sich, sein Assistent legt eine Videokassette in einen uralten Fernseher ein, der mitten im Büro einfach auf den Boden gestellt wurde. Auf dem Video sei der eindeutige Beweis für meinen Betrug. Im ersten Teil des Videos sieht man eine große, schicke Wohnung, in der halbnackte Frauen herum albern. Irgendwann bin ich auch im Bild. Ich erinnere mich nicht an die Wohnung, aber ich weiß intuitiv, dass ich dort gewohnt habe und ich weiß, dass mein Professor selbst dieses Video gedreht hat. „Wer sind diese Frauen?“, fragt er mich, als ob er nicht wüsste, dass er selbst hinter der Kamera stand. „Freunde von meiner Ex-Freundin!“, antworte ich etwas unbeholfen, etwas schuldbewusst, aber aus meiner Sicht doch überzeugend und füge hinzu: „Was spielt das für eine Rolle?“ Er schweigt und wir gucken weiter das Video, das immer pornographischere Züge annimmt. „Das wirst Du schon noch erfahren“, sagt er. Er stelle hier die Fragen.
Im zweiten Teil des Videos steigt eine alte Frau mit einem blauen Kapuzenpulli, die Mütze über den Kopf gezogen, aus einem dieser roten Londoner Busse aus. Sie soll der Schlüssel zu meinem angeblichen Betrug sein, so wird mit erklärt. Ich erkenne sie sofort wieder, obwohl sie viel zu stark gealtert ist: Es ist meine ehemalige Linguistikprofessorin K., aber sie erinnert sich leider nicht an mich, sie ist nämlich nicht nur in dem Video, sondern im selben Moment real vor dem Haus aus dem Bus gestiegen und steht plötzlich neben uns, blickt auf sich selbst auf dem Fernsehschirm und spricht die Worte synchron mit ihrer Aufnahme, die nun ebenfalls auf meine Fragen antwortet. Ich schaffe es nicht, sie zu überzeugen, sich an mich zu erinnern. Um meine Unschuld zu beweisen, trete ich mit ihr, Professor H., seinem Assistenten und einer kleinen Gruppe von gesichtslosen Menschen in roten Hemden die Reise zum Gipfel eines surrealen Berges irgendwo in Asien an. Ich weiß nicht, was ich dort zu finden glaube, aber es wird mich entlasten, das glaube ich zu wissen. Im Laufe der Reise, die wir in einer Kutsche beginnen, wird meine Linguistikprofessorin K. immer jünger und ich erinnere mich an eine zweite Begegnung mit ihr, als sie derart verjüngt ist, dass sie in meinem Alter ist: Sie war eine Ex-Freundin von mir, mit ihr habe ich in dieser Wohnung gewohnt, die zu Beginn des Videos gezeigt wurde. Und ich verliebe mich noch einmal in sie.
Je weiter wir nach oben steigen, desto seltsamer werden die Verhältnisse auf dem Berg. Dichter Nebel macht es bald unmöglich, zu erkennen, wo eigentlich oben und unten ist und wenn man auf die Bäume klettert, dann endet man nicht in Baumkronen, sondern wieder auf auf einem Boden und man steht Kopf an einer Decke, die es auf einem Berg gar nicht geben sollte. Immer mehr Vegetation tritt auf, wir sind nach einigen Tagen mitten auf einem Dschungelberg, auf dem es kein Oben und Unten (im doppelten Sinne) gibt. Der Assistent von Professors H. verliert derweilen die Videokamera, die er mitgebracht hat, um die Reise zu meinen Ungunsten zu dokumentieren. Irgendwann erscheint in der weiten Ferne auf dem Gipfel (der sinnigerweise in einem Tal liegt) ein futuristischer Turm, der an der Spitze eine kugelförmige Kuppel hat, umgeben von kleineren Bauten, die in verschiedenen Farben beleuchtet werden. Dort müssen wir hin, dort ist die Bibliothek, denke ich.