re:publica 2010: „Kreisbewegungen, oder?“

Zwei Mal wagte ich am gestrigen Tag den Versuch, einen „ernsthaften“ Artikel über die re:publica 2010 in die Tastatur zu hacken, ich wollte diesen bunten, wilden Social Media-Gemischtwarenladen an drei Locations mit neun Veranstaltungsräumen, zig Workshops, Seminaren und Vorträgen und 2500 Besuchern mitten in Berlin, dieses Internet mit echten Menschen aus distanzierter, journalistischer Perspektive betrachten. Ich musste daran scheitern: Allzu schnell bemerkte ich, dass ich, egal, was ich schreibe, der Veranstaltung damit genau so wenig gerecht werde wie alle diese ignoranten Artikel über die „Bloggerkonferenz“, die in den letzten Tagen in allen großen Holzmedien erschienen sind. Nein, sie war nicht hochgradig selbstreferentiell, diese re:publica, sie war aber auch nicht sonderlich visionär. Sie war nicht mit ausschließlich hochwertigen Veranstaltungen gespickt, aber auch nicht mit schlechtem Inhalt übersät. Sie ist kein Vorbote einer Zersplitterung der Netzkultur, aber wirkliche Schnittmengen gibt es zwischen Teilen der Twitteria (ich meine damit sicher nicht die Leute, die nebenbei auch ein bisschen ihre Links über die Seite schicken, sondern eher diejenigen, die am späteren Abend Twitter mit StudiVZ verwechseln und darüber schreiben, wer gut auf der Tanzfläche aussieht) und netzwerkenden Social Media Beratern in vielen Fällen tatsächlich nicht mehr.

Ein Brain-Stream, stattdessen: „Content is King“, Du sollst Deine Besucher wertschätzen, Realsatire pur im Vortrag „Blogs monetarisieren“. Extrem flache Tipps und Kniffe, mit denen man angeblich mehrere tausend Euro monatlich beim Bloggen verdienen kann, treffen amerikanische Fernsehprediger-Mentalität mit ein bisschen billiger Comedy. Den Leuten gefällt es. Die Menge johlt auch dem Wikileaks-Mann zu, der ein paar Powerpoint-Folien abliest, die erzählen, was sein Unternehmen so macht und der anschließend eine halbe Stunde lang Beispiele eben dafür auflistet. „Hätte ich bei Wikipedia detaillierter selbst nachlesen können“, denke ich, da twittern schon die Ersten über angebliche Standing Ovations. Dabei sind von einigen hundert Zuhörern nur drei oder vier Leute in der ersten Reihe aufgestanden, und die klatschen eher für das Projekt an sich, nicht für den Vortrag, jede Wette. Ein Hattrick macht das locker wett: Der halbe Popstar Jeff J. ruft das Zeitalter der Post-Privacy aus und erklärt anschaulich, warum er der Meinung ist, dass es nur positive Effekte haben kann, so öffentlich wie möglich zu agieren. Anschließend geht er, zur Untermauerung seiner These, mit ein paar Besuchern der #rp10 tatsächlich in die Sauna. Nackt sind wir alle gleich, das ist die Botschaft. Und ich hielt die Ankündigung in der Rede noch für einen Witz. Was hingegen passiert, wenn die Öffentlichkeit ein paar öffentliche Sachen nicht so toll findet, und wie man die dann unvermeidlichen Trolle unter Kontrolle hält, erläutert später Sascha L. in einer unterhaltsamen, selbstironischen und dennoch tiefsinnigen Rede, die mit „How To Survive A Shitstorm“ betitelt ist. Spannende These: Irgendwann, wenn sie ausufert, dann wird die Schlammschlacht gar zur Anti-Kritik, in der der eigentliche Kern der Kritik hinter einem braunen Trolltornado verschwimmt. Dazwischen das absolute Highlight: Prof. Dr. Peter K. referiert über zwei Gruppen von Heavy-Netzusern, die sich gar nicht verstehen können, weil sie mit anderen Bewertungen auf gleiche Dinge blicken, am nächsten Tag falsch wiedergegeben („Internetversteher vs. Nicht-Versteher“) von den meisten Zeitungen, die möglichst schnell Artikel darüber in die Online-Ausgaben bringen müssen.

Slow Media geht anders, nämlich mit Qualität und Hingabe. Der Vortrag dazu ist allerdings so überfüllt, dass ich den Versuch entnervt aufgebe, dort tiefere Information zu erhaschen und mich wieder in den Hof begebe, wo die Digital Natives sich beim Plausch seit Tagen gegenseitig Honig um den Mund schmieren. Wir verteilen für den 13. Stock die ganze Zeit an diverse Leute WanderCamp-Buttons, ich verstecke ein paar wenige Zettelgedichte auf den Toiletten. Im Vorbeigehen sehe ich vor der Kalkscheune ein paar rauchende alte Männer mit Poken, den Internet-Tamagotchis von 2008, herumspielen, die über die junge Netzgeneration schimpfen, die angeblich nichts selbst aufbaut und nur die vorhandenen Ami-Netze nutzt, und schäme mich fremd, denke aber gleichzeitig unwillkürlich darüber nach, ob das uns in ein paar Jahren auch so gehen wird. Wird man uns irgendwann auch auslachen, weil wir uns permanent im Netz mit dem Netz beschäftigen, aber alle anderen es bereits als ganz natürlichen Lebensraum entdeckt haben, über den man eigentlich gar nicht mehr wirklich reflektieren muss? Content is doch King, weißte. Aber wenn der Content nur aus Metacontent besteht, dann wird es irgendwann eng, sinniere ich in meine Kopfnotizapp, als sich plötzlich Robert B. neben mich setzt. Dem schreibe ich oft böse Kommentare in sein Blog und habe ihn als Freund gelöscht, als er seine Follower verkaufen wollte, er lädt mich trotzdem zu einer Zigarette ein. Überhaupt: Geeignet für deluxes Namedropping, so eine Veranstaltung: Der genannte und grundsympathische Sascha L. überredet mich und eine alte Freundin dazu, mit auf die Party am ersten Tag zu kommen, als ich eigentlich schon nach Hause fahren will, ich sehe ständig Mario S. mit seiner alten Kamera (die in Wahrheit modernste Technik ist) herumstreunen, kettenrauchen und Bilder machen. Irgendwann überwinde ich mich und wechsle sogar Worte mit ihm. Hauptorganisator Johnny H. ist sowieso der netteste Mensch der Welt, wie ich feststelle.

Anderswann sitzt irgendwo in der Nähe in einem Cafe (nein, nicht das Oberholz, ich vermeide diesen Klischeeort aus Gründen) @silenttiffy und wartet auf mich. „Eiere durch Berlin wie ein sich selbst ausgesetzt habender Hund“, schreibt sie, als ich im Stechschritt zur S-Bahn eile, mein iPhone permanent in der Hand, busy wie ich hier bin. Ich bin anschließend heilfroh drüber, dass ich für ein paar Stunden raus aus dem überdrehten Zirkus in der Friedrichstraße bin, schimpfe über das Programm, um herauszufinden, was meine eigentliche Meinung zu dem Ganzen ist, fühle mich inzwischen durch die Tonnen von Eindrücken psychisch derangierter als nach der Knüppelnacht auf dem With Full Force und habe Menschen gesehen, denen ich Nachts nicht auf Facebook begegnen will. Und trotzdem: Ein paar Sachen und diverse Begegnungen waren wirklich gut, stelle ich schließlich fest, als mich mein eigener Rant nicht komplett von der Sinnlosigkeit der Sache überzeugen kann. Nicht das Zeug, das wirkte, als würden die Redner eigentlich Unireferate halten und nur von Zetteln ablesen. Davon war einiges vorhanden, ich erspare mir, es aufzulisten. In der Vorlesung „Sex And The Internet“ gucken tausend Leute über Chatroulette einem Typen beim Onanieren zu (ich gebe zu, ich habe kurz überlegt, hier jemanden reinzulinken), der ziemlich schnell die Hand auf der Next-Taste statt am Geschlechtsteil hat, als er bei einer Drehung des Macbooks und einem ihm frenetisch applaudierenden Publikum bemerkt, dass er zufällig in eine sehr bizarre Situation hineingeraten ist. Gutes Nerd-Entertainment. Als mir irgendwann Nachts im Hof nach einigen Gläsern Bier Stefan N. über den Weg läuft, sage ich ihm, dass er auf sich aufpassen soll, denn das Internet brauche ihn noch. Finde ich wirklich. Biz S., den Johnny H. über Skype zum Videochat anrufen will, geht hingegen erst gar nicht dran, obwohl ein paar hundert Leute hier mit ihm verabredet waren. Macht nichts, wir singen einfach alle zum Abschluss zusammen Karaoke, Videos gibt es schon längst auf YouTube, is klar. Ich rede in den drei Tagen außerdem mit vierhundertzweiundfünfzig anderen Menschen, wenn auch meist nicht mehr als einige Sätze. Nicht übel für jemanden, der auf seine alten Mailadresse immer noch in regelmäßigen Abständen Post von einer Sozialphobiker-Selbsthilfegruppe bekommt, oder?

Das doppelte re:publica-Paradox: „Für eine Arbeitslosenveranstaltung haben die hier ziemlich viel Ahnung von EDV“, twittert der @dikator auf einen Zettel und gewinnt damit den Offlinetweetcontest. Ganz unterschreiben kann man das aber dann doch nicht, denn zum Twittern muss man bei der #rp10 vor die Tür, 2000 mobile Geräte wollten zur Spitze gleichzeitig online gehen, erzählt man mir (halte die Zahl übrigens für eine Übertreibung), das macht kein Wlan mit. Deswegen gibt es an dem Ort, an dem sich das ganze deutsche Internet in Person versammelt hat, auch die meiste Zeit keinerlei stabiles Netz. Eigentlich sehr passend, denke ich.