Bericht über einen Bericht.
Ich bin ganz allein auf diesem Festival und fühle mich nicht gut, weil ich allein hier bin. Man geht nicht allein auf Festivals, das wirkt verdächtig. Ich muss mehr wie ein Journalist denken, denke ich, denn ich bin ja als einer hier. Ich habe ein Schildchen um den Hals baumeln, auf dem mein Name und darunter das Wort „Presse“ steht, auch wenn ich mich jedes Mal wie ein Betrüger fühle, wenn ich es bei irgendwem vorzeigen muss. Das hat aber gar nichts mit der konkreten Situation zu tun, ich war schon oft mit so einem Schildchen auf Festivals, ich fühle mich einfach ziemlich häufig wie ein Betrüger, egal was ich tue. Als Journalist kann man jedenfalls allein auf ein Festival gehen, das ist nicht nur völlig ok, sondern sogar die Aufgabe, ich bin nur ein neutraler Beobachter, kein Teil des Geschehens. Ich muss mich dringend meiner Aufgabe des neutralen Beobachtens zuwenden, es ist schon zu viel Zeit vergangen, in der ich das nicht getan habe.
In meiner Hand ist eine Bierflasche. Es ist schon mindestens die vierte Bierflasche, die in den letzten paar Stunden in dieser Hand war und es ist erst früher Nachmittag. Das ist nicht gut, denke ich, da stolpere ich während des Rumflanierens und Denkens plötzlich über etwas (vermutlich mich selbst) und falle einen kleinen Abhang hinunter, der mitten auf dem Festivalgelände ist, die Bierflasche löst sich dabei aus meinem Griff (die Hand und der Arm werden zum wilden Herumrudern im Nichts benötigt, was freilich keinerlei erkennbare Wirkung hat, weswegen die Frage im Raum bzw. auf dem Festival stehen bleibt, warum mein Körper unwillkürlich diese Bewegungen ausführt), fliegt durch die Luft und schlägt auf meinem Handgelenk wieder auf, als ich am Fuß des Hügels schon ein paar kleinere Zeiteinheiten als Sekunden später im Gras zum Liegen gekommen bin. Dann läuft sie neben mir aus und gluckert dabei, als würde sie über mich lachen. Das tut kurz alles höllisch weh (der Einschlag der Flasche auf dem Handgelenk mehr als der Sturz), ich muss aber ebenfalls darüber lachen. Welcher Idiot baut einen Hügel auf ein solches Gelände? Das wird alles immer schlimmer, denke ich. Journalisten fallen nicht betrunken irgendwo runter und lachen über ihre eigene Dummheit und ich wollte doch wenigstens einmal ein guter Journalist sein.
Ein Mädchen kommt angelaufen, beugt sich über mich und fragt, ob ich mich verletzt hätte. Ich würde ihr echt gerne sagen, dass ich schwerverletzt bin und von ihr versorgt werden muss, dass sie mir das Leben gerettet hat und wir jetzt durch das Schicksal verbunden sind oder irgendetwas in der Art, denn sie ist wirklich hübsch und trägt Ohrringe, die versilberte Spielwürfel sind, aber das wäre alles gelogen und Journalisten lügen nicht, höchstens, um an Informationen zu kommen und sie wirkt nicht so, als ob sie irgendwelche Informationen hätte, vielleicht maximal darüber, wo man hier was zu rauchen bekommt, eine Information, die mich schon interessiert, die aber für einen Journalisten nicht relevant sein darf. Ich sage: „Nein, alles ok, aber Danke“ und lächle sie an. Sie lächelt zurück, sagt, dass der Sturz echt witzig aussah und ist dann auch schon wieder verschwunden. Als sie wieder verschwunden ist, ärgere ich mich kurz, sie nicht doch in ein Gespräch verwickelt zu haben. Vielleicht hätte es ja geholfen, mich als Pressevertreter erkennen zu geben. Grober Berichterstattungsfehler.
Ich greife nach der Bierflasche neben mir und trinke den letzten Schluck aus (Bierflaschen laufen nie ganz aus, wenn sie umkippen, das hat mit der Beschaffenheit von Flaschen mit sich nach oben verengenden Hälsen in horizontaler Lage an sich zu tun, die Möglichkeiten für so eine Flasche, ganz auszulaufen, sind: dass sie zerbricht, auf einem Abhang mit Öffnung nach unten landet oder aber direkt auf die Öffnung fällt und auf ihr stehen bleibt, letzteres ist ein äußerst unwahrscheinlicher Fall, den ich aber schonmal aus erster Hand beobachtet [„aus erster Hand beobachtet“ ist eine Formulierung, die mich sehr irritiert, ich habe mich aber genau aus dem Grunde dazu entschieden, sie in diesem Text zu lassen] habe).
Mein Artikel über das Festival, der in einer schäbigen, kleinen Lokalzeitung erscheint, die trotzdem deutlich mehr Leser hat, als jedes Blog, den ich in den letzten drei Jahren betrieben habe, heimst später Lob von allen Seiten ein, zu Recht, ich habe schließlich knallhart dafür recherchiert, mir sogar einige der eher mittelmäßigen* (*schlechten) Bands angeguckt und später doch noch andere Informanten nach diversen Dingen befragt.