Restedenken (I)

Über einen längeren Zeitraum nichts zu schreiben war nie eine ernsthafte Option. Wenn man nicht schreibt, dann tun es andere dennoch und man steht nur daneben und ärgert sich über sich selbst, es bleibt einem nur noch das Lesen, der Konsum. Nicht zu lesen geht auch nicht, wenn es das einzige Konsummedium ist, dass Du dauerhaft ertragen kannst. Ohne Konsum und Produktion droht schlimmstenfalls Stumpfsinn, bestenfalls willst Du plötzlich Dinge aus Holz bauen (ich wollte eigentlich schon immer mal Dinge aus Holz bauen).

Die zum zweiten Mal vorgetragene Frage, warum sie die Dateien in wild durcheinanderfliegende Ordner in ihrem Rechner wirft, in denen sie nichts wiederfindet und nicht stattdessen ein paar vernünftig sortierte Ordner aufmacht, beantwortet sie damit, dass sie ein Lied singt und dann lacht, eine Reaktion, die ich zunächst gar nicht als Antwort auf die Frage auffasse. Ich lache einfach mit. Ich bin wahrscheinlich der einzige Mensch mit Internetanschluss, der dieses Lied nicht kennt. Ich finde ein paar Tage später heraus, dass es „Gangnam Style“ heißt, das Wort „Gangnam“ hatte sie allerdings durch „Deutschland“ ersetzt. Die Antwort war ein deutliches: „Du verhältst Dich gerade sehr typisch für Dein Land.“

In meiner Bio-Kiste ist ein toter Schmetterling. Der Schmetterling hat keinen Kopf mehr. Ich habe das schon oft gesehen, dass bei toten Insekten die Teile, hinter denen sich organisches Gewebe befindet, zuerst sehr fragil werden und dann bei kleinsten Erschütterungen einfach zerbrechen, während andere Teile äußerst stabil sind und dem Lauf der Zeit trotzen. Bei Menschen ist es ja im Grunde auch so, nur besser nach innen und außen sortiert und ohne Zerbrechen.

Ich stehe genau dort, wo die Funken landen. Das Osterfeuer ist riesig, dummerweise hat man offenbar trockene Zweige angezündet, was die Anzahl der Funken massiv erhöht. Es ist dunkel und das alles sieht wirklich wunderschön aus. Statt den Standort zu wechseln lege ich den Kopf in den Nacken und gucke in die Richtung des glühenden Regens, der aus dem Himmel in meine Richtung fällt. Ein Funke landet auf meiner Nase, dort habe ich jetzt eine kleine rote Stelle, die aber langsam schon wieder verblasst.

Wenn man Aufmerksamkeit haben will, dann reicht der einfache Trick, ein Battle-Rapper zu werden. Tape Deinen Kopf wie ein Boxer seine Hände und zerleg ein paar Texte von anderen Autoren, die viele Leser haben. Noch leichter ist es nur, das Fernsehen oder „die Medien“ anzugreifen. Leider ist es auf Dauer auch ziemlich ermüdend und man hat am Ende selbst überhaupt nichts geschaffen, dass von Belang wäre, sondern nur dumm rumgemeckert. Oppa Deutschland Style.


Анастасия (2012)

Model: Anastasia


Ohne Titel

„Warum leuchten Deine Augen denn so?“, fragte das Kind.

„Viele Bienen haben sie gemacht, sind aus Wachs“, sagte sie. „In meinen Augen stecken Dochte und die brennen langsam auf mich herunter und das Feuer lockt Menschen an wie Motten, die sich daran wärmen, tief hineinglotzen und sich darin selbst zu erkennen glauben. Aber eigentlich brennen sie gar nicht langsam, sondern ziemlich schnell auf mich herunter. Irgendwann werden dort nur noch leere, schwarze Augenhöhlen zu sehen sein, das Wachs komplett vom Feuer verschlungen und umgekehrt und das wird keine gute Zeit für mich oder irgendjemanden.“


Nanoskop (XXXVI)

Zacharias, die zauselige Zypresse. / Von Jackson Pollock habe ich viel über das Kochen gelernt. / Gegendarstellung: gnulletsradnegeG. / Sätze, die man gerne mal hören würde: „Diesen ganzen Mainstreamscheiß mach ich nicht mehr mit, z. B. Individualismus.“ / Sehenswerte Infografik aus ganz vielen Schriftzeichen, die sich zwischen zwei Buchdeckeln zu ganzen Sätzen zusammengerottet haben.  / Gender Studies auf Bachelor. / Trendthema Selbsterkenntnistest: Wenn Dir jemand einen Spiegel vorhält, läufst Du dann wütend dagegen? / Sie rauchten diese langen, dünnen Filterzigaretten und schmierten sich gegenseitig Honig um die Bärte, Augenaushacken streng verboten. / „Wie geht es Dir?“ – „Es kommen gerade ein paar Erzählstränge durcheinander.“ / Musikalisches Schriftbild. / „Ich möchte nicht zurück nach Hamburg. Ich mische mich einfach unter die Babyenten und bleib hier.“ / Alles Ungeschriebene bedroht die Welt.


Pflanzen wissen, wie man elegant stirbt. (2012)


Bericht über einen Bericht.

Ich bin ganz allein auf diesem Festival und fühle mich nicht gut, weil ich allein hier bin. Man geht nicht allein auf Festivals, das wirkt verdächtig. Ich muss mehr wie ein Journalist denken, denke ich, denn ich bin ja als einer hier. Ich habe ein Schildchen um den Hals baumeln, auf dem mein Name und darunter das Wort „Presse“ steht, auch wenn ich mich jedes Mal wie ein Betrüger fühle, wenn ich es bei irgendwem vorzeigen muss. Das hat aber gar nichts mit der konkreten Situation zu tun, ich war schon oft mit so einem Schildchen auf Festivals, ich fühle mich einfach ziemlich häufig wie ein Betrüger, egal was ich tue. Als Journalist kann man jedenfalls allein auf ein Festival gehen, das ist nicht nur völlig ok, sondern sogar die Aufgabe, ich bin nur ein neutraler Beobachter, kein Teil des Geschehens. Ich muss mich dringend meiner Aufgabe des neutralen Beobachtens zuwenden, es ist schon zu viel Zeit vergangen, in der ich das nicht getan habe.

In meiner Hand ist eine Bierflasche. Es ist schon mindestens die vierte Bierflasche, die in den letzten paar Stunden in dieser Hand war und es ist erst früher Nachmittag. Das ist nicht gut, denke ich, da stolpere ich während des Rumflanierens und Denkens plötzlich über etwas (vermutlich mich selbst) und falle einen kleinen Abhang hinunter, der mitten auf dem Festivalgelände ist, die Bierflasche löst sich dabei aus meinem Griff (die Hand und der Arm werden zum wilden Herumrudern im Nichts benötigt, was freilich keinerlei erkennbare Wirkung hat, weswegen die Frage im Raum bzw. auf dem Festival stehen bleibt, warum mein Körper unwillkürlich diese Bewegungen ausführt), fliegt durch die Luft und schlägt auf meinem Handgelenk wieder auf, als ich am Fuß des Hügels schon ein paar kleinere Zeiteinheiten als Sekunden später im Gras zum Liegen gekommen bin. Dann läuft sie neben mir aus und gluckert dabei, als würde sie über mich lachen. Das tut kurz alles höllisch weh (der Einschlag der Flasche auf dem Handgelenk mehr als der Sturz), ich muss aber ebenfalls darüber lachen. Welcher Idiot baut einen Hügel auf ein solches Gelände? Das wird alles immer schlimmer, denke ich. Journalisten fallen nicht betrunken irgendwo runter und lachen über ihre eigene Dummheit und ich wollte doch wenigstens einmal ein guter Journalist sein.

Ein Mädchen kommt angelaufen, beugt sich über mich und fragt, ob ich mich verletzt hätte. Ich würde ihr echt gerne sagen, dass ich schwerverletzt bin und von ihr versorgt werden muss, dass sie mir das Leben gerettet hat und wir jetzt durch das Schicksal verbunden sind oder irgendetwas in der Art, denn sie ist wirklich hübsch und trägt Ohrringe, die versilberte Spielwürfel sind, aber das wäre alles gelogen und Journalisten lügen nicht, höchstens, um an Informationen zu kommen und sie wirkt nicht so, als ob sie irgendwelche Informationen hätte, vielleicht maximal darüber, wo man hier was zu rauchen bekommt, eine Information, die mich schon interessiert, die aber für einen Journalisten nicht relevant sein darf. Ich sage: „Nein, alles ok, aber Danke“ und lächle sie an. Sie lächelt zurück, sagt, dass der Sturz echt witzig aussah und ist dann auch schon wieder verschwunden. Als sie wieder verschwunden ist, ärgere ich mich kurz, sie nicht doch in ein Gespräch verwickelt zu haben. Vielleicht hätte es ja geholfen, mich als Pressevertreter erkennen zu geben. Grober Berichterstattungsfehler.

Ich greife nach der Bierflasche neben mir und trinke den letzten Schluck aus (Bierflaschen laufen nie ganz aus, wenn sie umkippen, das hat mit der Beschaffenheit von Flaschen mit sich nach oben verengenden Hälsen in horizontaler Lage an sich zu tun, die Möglichkeiten für so eine Flasche, ganz auszulaufen, sind: dass sie zerbricht, auf einem Abhang mit Öffnung nach unten landet oder aber direkt auf die Öffnung fällt und auf ihr stehen bleibt, letzteres ist ein äußerst unwahrscheinlicher Fall, den ich aber schonmal aus erster Hand beobachtet [„aus erster Hand beobachtet“ ist eine Formulierung, die mich sehr irritiert, ich habe mich aber genau aus dem Grunde dazu entschieden, sie in diesem Text zu lassen] habe).

Mein Artikel über das Festival, der in einer schäbigen, kleinen Lokalzeitung erscheint, die trotzdem deutlich mehr Leser hat, als jedes Blog, den ich in den letzten drei Jahren betrieben habe, heimst später Lob von allen Seiten ein, zu Recht, ich habe schließlich knallhart dafür recherchiert, mir sogar einige der eher mittelmäßigen* (*schlechten) Bands angeguckt und später doch noch  andere Informanten nach diversen Dingen befragt.


Nanoskop (XXXV)

Blutpolka und Knochentango. / Endlich jemanden kennengelernt, der auch zur Einsiedelei neigt. Sie will mich nur leider fast nie treffen. / Ich wusste genau, dass ich gleich denken würde „Ich wünschte, ihr wärt weniger vorhersehbar“. Ich wünschte, ich wäre weniger vorhersehbar. / OSX Oachkatzlschwoaf. / Kosename „Kollaborateurin“. / Ein Anti-Märchen, quasi. Brutal wahr, dafür hier und jetzt. / Nur sprachlich paradoxer Geheimplan „Mit Dir abstürzen, nur um bei Dir zu landen“. / Pädagogik auf Tornister studieren. / Pro-Tipp: Wer für Favs und Likes schreibt, der bekommt nur selten mehr als Favs und Likes. / Statussymbol „Selbstironie“. / Die allesentscheidende Frage bei Intelligenztests in Zeitschriften ist die, ob man ernsthaft den Test ausfüllt. / „Wir kennen uns von den Blütenblättern des Gänseblümchens.“/ Die Gemeinsamkeit von ganz alten Cartoons und Schmidtchen Schleicher: Elastische Beine mit federnden Knien. / Unbesetzter Metal-Bandname „Maehdreshor“.


Nanoskop (XXXIV)

Windschiefe Kopfgeburten. / Kommentare, in denen irgendwelches Gezeter über angebliche „Zensur“ vorkommt, lösche ich meistens direkt. / „Niemand liebt mich.“ – „Dein Hauptproblem ist Deine Einstellung.“ – „Dabei hat mich eigentlich sowieso niemand verdient.“ – „Viel besser.“ / Jugenderinnerungen (an den Innenseiten der Unterarme). / Ramba Zamba : Remmidemmi / „Du umarmst mich ein bisschen zu intensiv für eine normale Begrüßung.“ (Oft gedachte Sätze, die nur selten gesagt werden) / Reichtum: Die sorgfältige Auswahl, nicht das Anhäufen. / Will ein medizinisches Fachbuch für Kinder schreiben. Provisorischer Titel: „Flimmertier & Nasenhärchen“. / Jeder hat heute eine Meinung zu allem. Es gibt so scheißviele Meinungen, dass Meinungen völlig egal geworden sind. / Die Dämonen der Anderen. / Die Leute aus der Zukunft machen sich so oder so über uns lustig. / „Wann gehst Du endlich kurz Zigaretten holen?“


67 Grenzenflecken (2013)

“67 Grenzenflecken und Beats / begraben iM Gegengiftland”


Kindheit’s Trinkhalle (2013)

“Kindheit’s Trinkhalle / ANTI-AGING im Denkmal / tanz Deine Fragmente!”


Paranoia im System.

Das erste Mal sehe ich den Infozettel zur Mandelentfernung, als man mir nach der Eingangsuntersuchung verschiedene Patientenbögen zur Ausfüllung reicht. Ich kreuze fast überall das Feld ‘n’ an. Ich bin nicht krank, wurde nie operiert, habe keine Allergien, keine Suchtprobleme (Lesen und Schreiben werden zum Glück nicht abgefragt), war quasi noch nie beim Arzt, keine Schäden, Baujahr bekannt und insgesamt durchaus gebrauchstüchtig. Der Zettel klemmt unschuldig unter dem ganzen anderen Gedöns auf dem braunen Plastikklemmbrettchen: Ein harmloser, im Vergleich zu den nüchternen Bögen fast farbenfroher A5-Flyer, dem man sogar eine Art Design spendiert hat. „Was soll ich denn damit?“, frage ich die Frau am Empfang in einem etwas patzigen Tonfall, „ich habe eine Entzündung im Hals, aber nichts mit den Mandeln“. „Ja, dann geben Sie den halt einfach wieder her“, sagt sie. Im Laufe dieses Tages bekomme ich den Zettel noch zwei weitere Male untergejubelt, immer zwischen andere Formulare gemischt, die tatsächlich etwas mit meinem Fall zu tun haben. Ich messe dem keine Bedeutung zu. Am Abend auf der Station nehme ich die Speisekarte in die Hand, die auf dem Beistelltisch neben meinem Bett liegt. Darunter liegt: Der Mandelentfernungs-Flyer, der weiterhin den „Routineeingriff“ geradezu als Traumerfahrung mit endlos-vielen Vorteilen präsentiert, die jeder Menschen in seinem Leben gemacht haben sollte.

Ich bin irritiert und mir unsicher darüber, ob ich langsam paranoid werde von den vielen, inzwischen nicht mehr in allen Details für mich nachvollziehbaren Infusionsflaschen, die im 3-Stunden- und Drittel- bis Halblitertakt über den „Zugang“ in meinem Arm den ganzen Tag in meinen Blutkreislauf gepumpt werden. Schmerzmittel, Cortison, Antibiotika, Kontrastmittel, immer rein in guten, alten Körper, der braucht das und bitte keine doofen Fragen, das gehört halt dazu zu der ganzen Krankenhausnummer. Mich interessieren hier gerade die endlosen Widersprüche: Das Kontrastmittel („Kontrastmittel“ ist längst zu meiner Wortschatzneuaufnahme des Tages avanciert, für die immer schwammiger werdenden Meinungswelten öffentlicher Diskurse bräuchte im Grunde man auch so eine Wunderwaffe), das ich vor dem CT einnehmen muss, damit die Weichteile in meinem Rachen sichtbarer für die Strahlen werden, ist wohl irgendeine hochgiftige Scheisse (zumindest klingt der Nebenwirkungsaufklärungswisch so und es ruft bei der Zufuhr einen relativ heftigen körperlichen Effekt hervor: zuerst fühlt sich Stelle sehr heiß an, an der die Infusion einläuft, selbige Empfindung breitet sich dann in den ganzen Körper aus, dabei wird einem schlecht und schwindelig; das Kontrastmittel wird erst mit Ansage eingespritzt, wenn man schon in der Röhre ist und auf einer Bahre liegt, die Ansage erfolgt dabei aus dem Off [„Das Kontrastmittel folgt jetzt“], denn die Pflegerin steuert die ganze Konstruktion vom Nebenraum aus, genau so muss es sein, wenn man in den USA mit einer Giftspritze aus dem Leben gehen muss, denke ich), man soll danach jedenfalls möglichst viel Trinken, um es wieder aus dem Stoffwechsel zu spülen. Gleichzeitig soll ich aber laut vorheriger Befehle auf keinen Fall etwas trinken, da ich möglicherweise noch einmal operiert werden muss (nichts essen und trinken heißt im hiesigen Jargon „nüchtern sein“, eine zu offensichtliche Vorlage für dumme Witze, die ich mittels Twitter gnadenlos ausnutze, auch wenn meine Selbstachtung als Schreiber heftig Widerspruch einlegt). Als ich eine der Schwestern mit dem mir erst viel später in vollem Ausmaße klar werdenden Widerspruch (mein Gehirn funktioniert hier drin nicht richtig) in den erhaltenen Anweisungen konfrontiere, ernte ich nur ein leeres Gesicht und die Wiederholung des zuletzt Gesagten, d.h. der Aussage, die von ihrem Chef kommt. Was das Kontrastmittel für Nebenwirkungen haben kann (ausfallende Augäpfel und plötzlicher Riesenwuchs der Nasenflügel sind noch die harmloseren Dinge, die ich gelesen zu haben glaube) und dass mir seit der piepsenden Drehröhre kotzübel ist, ist angesichts der direkten Anweisung des Arztes ein eher abstrakter und irrelevanter Nebenschauplatz für die zuständige Nachtschicht. Gegen drei Uhr wird mir das allerdings völlig piepegal und ich hänge mich direkt mit meinem natürlichen „Zugang“ (Mund) an den Wasserhahn und lasse mich mit H2O volllaufen, woraufhin sich meine Übelkeit deutlich spürbar legt. Eine Frau erzählt mir am nächsten Morgen auf dem Hof (es gibt keinen Hof, das ist eigentlich die Durchfahrt zwischen den beiden Hauptgebäuden, Menschen, die nicht rauchen dürfen, rauchen hier heimlich in den nichteinsehbaren Ecken), dass sie hier von vier Ärzten in vier Wochen vier unterschiedliche Diagnosen bekommen hat. Sie hat irgendetwas sehr Schlimmes, weiß aber nicht genau, was es ist und sagt, dass sie Angst hat, dass sie hier nicht wieder rausgehen wird. Wir fügen uns bei Facebook als Freunde hinzu, wissen aber wohl beide, dass das eher eine leere Höflichkeitsgeste ist, dass es eher eine von diesen Verbindungen wird, bei denen man sich zweimal pro Jahr kurz schreibt (die Geburtstage). Vielleicht mache ich aber auch absichtlich das Gegenteil von dem, was wir beide erwarten, gehe sie in den nächsten Tagen einfach mal besuchen, sobald ich selbst wieder richtig auf den Beinen bin und bringe ihr eine Zigarette vorbei. Aber nur eine, ich assistiere in meiner Freizeit ja nicht bei Selbstmorden.

Da ich in einem abgesehen von meiner Anwesenheit noch leeren Vierbettzimmer untergebracht bin, gucke ich sofort nach der Entdeckung unter die Speisekarten auf den Tischchen neben den anderen drei Betten: Keine Mandelinfos. Ich hatte es befürchtet, auch wenn das alles wie ein billiger Thriller wirkt und ich immer noch nicht glauben mag, dass man mir hier eine unsinnige Zusatzoperation auf derart plumpe Weise schmackhaft machen will. Ich schiebe meine paranoiden Ängste darüber, wie man mich in der Nacht aus dem Zimmer abholen, bis zur Paralyse durchinfusionieren und bizarre Operationen an mit durchführen wird, auf die Höllenschmerzen der letzten Tage, zu viele schlechte Filme und zu wenig Erfahrung mit Krankenhäusern und erlebe die weiter oben und weiter unten geschilderte Scheißnacht. Als am nächsten Vormittag bei der Visite der Stationsarzt dann allerdings tatsächlich (mit einer hübsch vorgetragenen „Oh, one more thing…“-Performance) damit anfängt, ob ich schon mal daran gedacht hätte, mir (rein vorsorglich natürlich) die Mandeln rausnehmen zu lassen und dass man das ja relativ unkompliziert machen könnte, eilt mir im Gefolge einer Gänsehaut irgendetwas den Rücken rauf. Es ist eine Mischung aus „Die wollen Dich hier nach und nach ausschlachten und Deine Organe noch privateren Privatpatienten einpflanzen“ vs „Was passiert eigentlich hier mit älteren Leuten, die nicht mehr ganz so fit im Kopf sind und das alles nicht überblicken können?“ vs „Scheiße, meine Scheißparanoia hatte Recht“-Gefühl. Ich verlasse am Nachmittag die Klinik auf eigenen Wunsch („gegen ärztlichen Rat“) und es fühlt sich ein bisschen an, als wäre man als geistig Gesunder aus einem Irrenhaus entkommen. Vier Stunden nach der letzten Infusion machen meine wiederkehrenden Sinne langsam wieder soetwas wie einen normalen Menschen aus mir. Ich hoffe, dass mein vorschneller Abschied keine Überreaktion war, weiß aber jetzt zumindest, dass ich im Zweifel in freier Wildbahn sterben und nicht in der dortigen Krankenhauskapelle im dritten Stock von Trakt A hinter diesen schweren Holztüren plötzlich in einem Sarg nicht mehr aufwachen werde, so zumindest die Rechtfertigung meiner Abreise gegenüber mir selbst, als ich in den Bus steige.

Ich war seit meiner Geburt nicht mehr in einem Krankenhaus (abgesehen von ein paar Stunden „zur Beobachtung“ vor zehn Jahren nach einem fremdverschuldeten Verkehrsunfall, in dem Fall ergriff ich mitten in der Nacht und ohne Ansage an irgendwen in einem über mein Krankenbetttelefon beorderten Taxi die Flucht, weil ich die Infusionsnadel im Arm nicht mehr ertragen konnte; Infusionsnadeln und Schläuche im Körper sind bis heute immer noch das Schlimmste an der ganzen Sache, wie ich wieder gemerkt habe – abgesehen von dem mechanisch-funktionalen Scheißwort „Zugang“ dafür, das ist genau so schlimm wie die Sache an sich), aber ich hätte nie gedacht, dass es mich auf eine derart verstörende Weise misstrauisch gegenüber Menschen machen könnte. Von „kurz mal eine eitrige Stelle aus der Hölle im Hals anschnippeln, damit die weggeht“ (‘OP’), landet man verdammt schnell im „längerer Aufenthalt mit fünf Infusionen täglich, Kernspins und weiteres Sägen im Körper“-Land, wenn man nicht höllisch aufpasst (maßlos unter-, dann übertriebene Darstellung, die in die Cartoonhaftigkeit des ganzen Textes passen soll). Am Tag nach der Operation, mit einer leichten Bonuserkältung im Gepäck (ich habe mit dem Kopf in Richtung Fenster geschlafen und dummerweise irgendwann nach der Wasserepisode in Halbtrance das Fenster gekippt) geht es mir jedenfalls auf diverse Weisen so schlecht, dass der Gedanke, vielleicht doch noch ein paar Tage zu bleiben und brav weiter an mir rumdoktoren zu lassen, plötzlich eklatant attraktiv erscheint, aus Freiheitsperspektive im Nachhinein freilich ganz eindeutig Stockholm- bzw. Zauberberg-Syndrom. Als Kassenpatient ist das Erlebniskabinett Krankenhaus vermutlich komplett andersherum und sogar noch sehr viel gruseliger. Ich stelle mir vor, wie man als Angehöriger dieser unerwünschten Kaste direkt nach der Notoperation mitsamt dem Bett auf die Straße gerollt, durch den Hebemechanismus in die Vertikale und dann mit dem Arschtritt eines Mitarbeiters des Sicherheitsdienstes vom Gelände befördert wird, der einem aus Mitleid am Tor noch eine rostige Nadel und ein speckig-zusammengerolltes Konvolut mit zwei kurz gehaltenen Lederfäden in die Hand drückt, „falls die Wunde doch wieder aufgeht“. An diesem Zweikassensystem ist jedenfalls in Summe so ziemlich alles faul.

Egal, zu welcher Gruppe ich demnächst gehören werde (mir steht ein Rückwechsel zu den weniger Privilegierten bevor, was aber eine ganz andere Geschichte ist): Ich werde ab sofort alles daran setzen, die nächsten 100 Jahre nicht mehr ernsthaft krank zu werden, das scheint am Ende dann doch die einzig effektive Waffe gegen Krankenhauskomplikationen aller Art. Das Einzige, was diesen Zukunftsplänen noch im Wege steht, ist freilich (wie immer) die Gegenwart.


Nanoskop (XXXIII)

Verblichenes Haar, junge Augen, neuntes Leben, mindestens. / Binde kleine Ätherfeedbackschleifchen um Deine Gedanken. / Gut getarnte Umwege. / „Und was hast Du diesen Sommer gemacht?“ – „Mir Sorgen.“ / Alle Fünfe gerade sein lassen: mein sechster Sinn (bin siebengescheit, also Achtung!). / Niemand hat die Absicht, hier einen roten Faden reinzubringen. / Scherbengericht: Linsensuppe (kräftig umrühren!) / Aus nostalgischen Gründen mit jemandem zu schlafen gibt negative Karma-Punkte. Bitte prägt euch das ein (außer ihr hattet mal was mit mir). / Kleine Mitbringsel aus dem Wortschatzland: Kaputnik, Gummitwist und Kokolores, alles ganz kommod. / „Ich weiß, dass Du es nett meinst, aber es klingt wie eine Drohung.“ / Bin ein Oxymoron (und das Gegenteil) / „Lügst Du mir das Graue von Himmel herunter?“ – „Häh? Die Sonne scheint doch schon den ganzen Tag.“ – „Wirklich?!“ – „Nein.“ / Feinsinn und Ehrfurcht.


Letters (2012)