Das erste Mal sehe ich den Infozettel zur Mandelentfernung, als man mir nach der Eingangsuntersuchung verschiedene Patientenbögen zur Ausfüllung reicht. Ich kreuze fast überall das Feld ‘n’ an. Ich bin nicht krank, wurde nie operiert, habe keine Allergien, keine Suchtprobleme (Lesen und Schreiben werden zum Glück nicht abgefragt), war quasi noch nie beim Arzt, keine Schäden, Baujahr bekannt und insgesamt durchaus gebrauchstüchtig. Der Zettel klemmt unschuldig unter dem ganzen anderen Gedöns auf dem braunen Plastikklemmbrettchen: Ein harmloser, im Vergleich zu den nüchternen Bögen fast farbenfroher A5-Flyer, dem man sogar eine Art Design spendiert hat. „Was soll ich denn damit?“, frage ich die Frau am Empfang in einem etwas patzigen Tonfall, „ich habe eine Entzündung im Hals, aber nichts mit den Mandeln“. „Ja, dann geben Sie den halt einfach wieder her“, sagt sie. Im Laufe dieses Tages bekomme ich den Zettel noch zwei weitere Male untergejubelt, immer zwischen andere Formulare gemischt, die tatsächlich etwas mit meinem Fall zu tun haben. Ich messe dem keine Bedeutung zu. Am Abend auf der Station nehme ich die Speisekarte in die Hand, die auf dem Beistelltisch neben meinem Bett liegt. Darunter liegt: Der Mandelentfernungs-Flyer, der weiterhin den „Routineeingriff“ geradezu als Traumerfahrung mit endlos-vielen Vorteilen präsentiert, die jeder Menschen in seinem Leben gemacht haben sollte.
Ich bin irritiert und mir unsicher darüber, ob ich langsam paranoid werde von den vielen, inzwischen nicht mehr in allen Details für mich nachvollziehbaren Infusionsflaschen, die im 3-Stunden- und Drittel- bis Halblitertakt über den „Zugang“ in meinem Arm den ganzen Tag in meinen Blutkreislauf gepumpt werden. Schmerzmittel, Cortison, Antibiotika, Kontrastmittel, immer rein in guten, alten Körper, der braucht das und bitte keine doofen Fragen, das gehört halt dazu zu der ganzen Krankenhausnummer. Mich interessieren hier gerade die endlosen Widersprüche: Das Kontrastmittel („Kontrastmittel“ ist längst zu meiner Wortschatzneuaufnahme des Tages avanciert, für die immer schwammiger werdenden Meinungswelten öffentlicher Diskurse bräuchte im Grunde man auch so eine Wunderwaffe), das ich vor dem CT einnehmen muss, damit die Weichteile in meinem Rachen sichtbarer für die Strahlen werden, ist wohl irgendeine hochgiftige Scheisse (zumindest klingt der Nebenwirkungsaufklärungswisch so und es ruft bei der Zufuhr einen relativ heftigen körperlichen Effekt hervor: zuerst fühlt sich Stelle sehr heiß an, an der die Infusion einläuft, selbige Empfindung breitet sich dann in den ganzen Körper aus, dabei wird einem schlecht und schwindelig; das Kontrastmittel wird erst mit Ansage eingespritzt, wenn man schon in der Röhre ist und auf einer Bahre liegt, die Ansage erfolgt dabei aus dem Off [„Das Kontrastmittel folgt jetzt“], denn die Pflegerin steuert die ganze Konstruktion vom Nebenraum aus, genau so muss es sein, wenn man in den USA mit einer Giftspritze aus dem Leben gehen muss, denke ich), man soll danach jedenfalls möglichst viel Trinken, um es wieder aus dem Stoffwechsel zu spülen. Gleichzeitig soll ich aber laut vorheriger Befehle auf keinen Fall etwas trinken, da ich möglicherweise noch einmal operiert werden muss (nichts essen und trinken heißt im hiesigen Jargon „nüchtern sein“, eine zu offensichtliche Vorlage für dumme Witze, die ich mittels Twitter gnadenlos ausnutze, auch wenn meine Selbstachtung als Schreiber heftig Widerspruch einlegt). Als ich eine der Schwestern mit dem mir erst viel später in vollem Ausmaße klar werdenden Widerspruch (mein Gehirn funktioniert hier drin nicht richtig) in den erhaltenen Anweisungen konfrontiere, ernte ich nur ein leeres Gesicht und die Wiederholung des zuletzt Gesagten, d.h. der Aussage, die von ihrem Chef kommt. Was das Kontrastmittel für Nebenwirkungen haben kann (ausfallende Augäpfel und plötzlicher Riesenwuchs der Nasenflügel sind noch die harmloseren Dinge, die ich gelesen zu haben glaube) und dass mir seit der piepsenden Drehröhre kotzübel ist, ist angesichts der direkten Anweisung des Arztes ein eher abstrakter und irrelevanter Nebenschauplatz für die zuständige Nachtschicht. Gegen drei Uhr wird mir das allerdings völlig piepegal und ich hänge mich direkt mit meinem natürlichen „Zugang“ (Mund) an den Wasserhahn und lasse mich mit H2O volllaufen, woraufhin sich meine Übelkeit deutlich spürbar legt. Eine Frau erzählt mir am nächsten Morgen auf dem Hof (es gibt keinen Hof, das ist eigentlich die Durchfahrt zwischen den beiden Hauptgebäuden, Menschen, die nicht rauchen dürfen, rauchen hier heimlich in den nichteinsehbaren Ecken), dass sie hier von vier Ärzten in vier Wochen vier unterschiedliche Diagnosen bekommen hat. Sie hat irgendetwas sehr Schlimmes, weiß aber nicht genau, was es ist und sagt, dass sie Angst hat, dass sie hier nicht wieder rausgehen wird. Wir fügen uns bei Facebook als Freunde hinzu, wissen aber wohl beide, dass das eher eine leere Höflichkeitsgeste ist, dass es eher eine von diesen Verbindungen wird, bei denen man sich zweimal pro Jahr kurz schreibt (die Geburtstage). Vielleicht mache ich aber auch absichtlich das Gegenteil von dem, was wir beide erwarten, gehe sie in den nächsten Tagen einfach mal besuchen, sobald ich selbst wieder richtig auf den Beinen bin und bringe ihr eine Zigarette vorbei. Aber nur eine, ich assistiere in meiner Freizeit ja nicht bei Selbstmorden.
Da ich in einem abgesehen von meiner Anwesenheit noch leeren Vierbettzimmer untergebracht bin, gucke ich sofort nach der Entdeckung unter die Speisekarten auf den Tischchen neben den anderen drei Betten: Keine Mandelinfos. Ich hatte es befürchtet, auch wenn das alles wie ein billiger Thriller wirkt und ich immer noch nicht glauben mag, dass man mir hier eine unsinnige Zusatzoperation auf derart plumpe Weise schmackhaft machen will. Ich schiebe meine paranoiden Ängste darüber, wie man mich in der Nacht aus dem Zimmer abholen, bis zur Paralyse durchinfusionieren und bizarre Operationen an mit durchführen wird, auf die Höllenschmerzen der letzten Tage, zu viele schlechte Filme und zu wenig Erfahrung mit Krankenhäusern und erlebe die weiter oben und weiter unten geschilderte Scheißnacht. Als am nächsten Vormittag bei der Visite der Stationsarzt dann allerdings tatsächlich (mit einer hübsch vorgetragenen „Oh, one more thing…“-Performance) damit anfängt, ob ich schon mal daran gedacht hätte, mir (rein vorsorglich natürlich) die Mandeln rausnehmen zu lassen und dass man das ja relativ unkompliziert machen könnte, eilt mir im Gefolge einer Gänsehaut irgendetwas den Rücken rauf. Es ist eine Mischung aus „Die wollen Dich hier nach und nach ausschlachten und Deine Organe noch privateren Privatpatienten einpflanzen“ vs „Was passiert eigentlich hier mit älteren Leuten, die nicht mehr ganz so fit im Kopf sind und das alles nicht überblicken können?“ vs „Scheiße, meine Scheißparanoia hatte Recht“-Gefühl. Ich verlasse am Nachmittag die Klinik auf eigenen Wunsch („gegen ärztlichen Rat“) und es fühlt sich ein bisschen an, als wäre man als geistig Gesunder aus einem Irrenhaus entkommen. Vier Stunden nach der letzten Infusion machen meine wiederkehrenden Sinne langsam wieder soetwas wie einen normalen Menschen aus mir. Ich hoffe, dass mein vorschneller Abschied keine Überreaktion war, weiß aber jetzt zumindest, dass ich im Zweifel in freier Wildbahn sterben und nicht in der dortigen Krankenhauskapelle im dritten Stock von Trakt A hinter diesen schweren Holztüren plötzlich in einem Sarg nicht mehr aufwachen werde, so zumindest die Rechtfertigung meiner Abreise gegenüber mir selbst, als ich in den Bus steige.
Ich war seit meiner Geburt nicht mehr in einem Krankenhaus (abgesehen von ein paar Stunden „zur Beobachtung“ vor zehn Jahren nach einem fremdverschuldeten Verkehrsunfall, in dem Fall ergriff ich mitten in der Nacht und ohne Ansage an irgendwen in einem über mein Krankenbetttelefon beorderten Taxi die Flucht, weil ich die Infusionsnadel im Arm nicht mehr ertragen konnte; Infusionsnadeln und Schläuche im Körper sind bis heute immer noch das Schlimmste an der ganzen Sache, wie ich wieder gemerkt habe – abgesehen von dem mechanisch-funktionalen Scheißwort „Zugang“ dafür, das ist genau so schlimm wie die Sache an sich), aber ich hätte nie gedacht, dass es mich auf eine derart verstörende Weise misstrauisch gegenüber Menschen machen könnte. Von „kurz mal eine eitrige Stelle aus der Hölle im Hals anschnippeln, damit die weggeht“ (‘OP’), landet man verdammt schnell im „längerer Aufenthalt mit fünf Infusionen täglich, Kernspins und weiteres Sägen im Körper“-Land, wenn man nicht höllisch aufpasst (maßlos unter-, dann übertriebene Darstellung, die in die Cartoonhaftigkeit des ganzen Textes passen soll). Am Tag nach der Operation, mit einer leichten Bonuserkältung im Gepäck (ich habe mit dem Kopf in Richtung Fenster geschlafen und dummerweise irgendwann nach der Wasserepisode in Halbtrance das Fenster gekippt) geht es mir jedenfalls auf diverse Weisen so schlecht, dass der Gedanke, vielleicht doch noch ein paar Tage zu bleiben und brav weiter an mir rumdoktoren zu lassen, plötzlich eklatant attraktiv erscheint, aus Freiheitsperspektive im Nachhinein freilich ganz eindeutig Stockholm- bzw. Zauberberg-Syndrom. Als Kassenpatient ist das Erlebniskabinett Krankenhaus vermutlich komplett andersherum und sogar noch sehr viel gruseliger. Ich stelle mir vor, wie man als Angehöriger dieser unerwünschten Kaste direkt nach der Notoperation mitsamt dem Bett auf die Straße gerollt, durch den Hebemechanismus in die Vertikale und dann mit dem Arschtritt eines Mitarbeiters des Sicherheitsdienstes vom Gelände befördert wird, der einem aus Mitleid am Tor noch eine rostige Nadel und ein speckig-zusammengerolltes Konvolut mit zwei kurz gehaltenen Lederfäden in die Hand drückt, „falls die Wunde doch wieder aufgeht“. An diesem Zweikassensystem ist jedenfalls in Summe so ziemlich alles faul.
Egal, zu welcher Gruppe ich demnächst gehören werde (mir steht ein Rückwechsel zu den weniger Privilegierten bevor, was aber eine ganz andere Geschichte ist): Ich werde ab sofort alles daran setzen, die nächsten 100 Jahre nicht mehr ernsthaft krank zu werden, das scheint am Ende dann doch die einzig effektive Waffe gegen Krankenhauskomplikationen aller Art. Das Einzige, was diesen Zukunftsplänen noch im Wege steht, ist freilich (wie immer) die Gegenwart.