Wort für Wort (LVIII)

„Gib mir irgendetwas. Wirf mir Deinen Müll unachtsam vor die Füsse, ich sammle ihn auf, als wäre er das Wertvollste der Welt und stelle ihn in eine Vitrine, lade ihn mit einer eigens für ihn erfundenen Bedeutung auf, bis er kein Gegenstand mehr ist, sondern nur noch Symbol. Ich schnitze Chiffren aus Deinen billigsten Metaphern, so verschnörkelt, dass ich sie selbst nicht mehr entziffern kann, baue viertausendzimmrige Luftwolkenkratzer aus dem Hauch einer zwischen den Zeilen Deiner Sätze vermuteten Andeutung und höre erst dann wieder damit auf, wenn ich tot bin.“


Wort für Wort (LVII)

„In dem Moment, in dem Du die Tür hinter Dir zumachst, fehlst Du mir bereits so sehr, dass ich aus dem Fenster springen will, weil ich es nicht ertrage, ohne Dich zu existieren. Ich würde mir Dich am liebsten wegtherapieren lassen, wüsste ich nicht, dass es so wäre, wie sich einen gesunden Arm amputieren lassen, weil dieser Drang ja ganz normal ist: Ich liebe Dich leider einfach.“


Zirkelschluss.

Und dann sitze ich bei dieser Gartenparty und mich gruselt vor dem zur Schau gestellten Spießertum, aber gleichzeitig sehne ich mich genau danach, vielleicht gruselt mich auch eher vor dieser Sehnsucht. Ich selbst habe kein Zuhause, weil: Mein verfluchtes Zuhause, das ist ja kein Ort, das bist einfach Du, und Du sitzt da zwar auch rum, aber das gilt nicht, denn ich darf Dich zur Zeit nicht heimlich knutschen, wenn keiner hinguckt. Deswegen setze ich mich weg, setze mich oben auf dieses Klettergerüst, das ist wie so eine Art von Protest, den keiner versteht. Macht nichts, ich verstehe ihn. „Er muss sich wieder demonstrativ absondern!“, heißt es.

Um halb zehn geht die Sonne unter, der Himmel wird so komisch dunkelblau. Die Zeit zwischen Sonnenuntergang und Nacht hasse ich, und die dauert im Sommer endlos. Ich habe immer das Gefühl, das ist so eine Nicht-Zeit und außerdem Schmerzen in vorderen Bereich hinter der Stirn, die kommen von dem wenigen Schlaf, den ich bekomme und dem vielen Alkohol, den ich mir nehme. Ich denke wieder einmal darüber nach, wie schrecklich die meisten Berufe eigentlich sind. Nehmen wir Steuerberater: Du verbringst Deine Zeit damit, den Menschen dabei zu helfen, dem Staat möglichst trickreich und innerhalb der Grenzen des Gesetzes zu verschweigen, wie viel Geld sie verdient haben. Das machst Du im Grunde jeden Tag. Immer und immer wieder dieselbe Scheiße, jahrelang. Kann das irgendeinen Menschen wirklich erfüllen, der noch ganz dicht ist? Wahrscheinlich schon. Man muss bei jedem Gedanken hinterher noch mal überlegen, wer hier eigentlich der Geisterfahrer ist, das ist wichtig, damit man nicht starrköpfig wird. Und wenn man selbst der Geisterfahrer ist, dann ist es wichtig, abzuwägen, ob man jetzt auf den Standstreifen fährt, sich die Sache noch mal überlegt und umdreht, oder ob man nur deswegen umkehren würde, um mit dem Strom zu fahren, aber eigentlich doch in genau die Richtung will, in die man unterwegs ist. Schreibe ich eigentlich immer dasselbe oder fühlt sich das nur so an? Wahrscheinlich bin ich im Grunde gar nicht so weit weg von dem verdammten Steuerberater.


Gleichung.

„Ich fühle mich wie etwas, das von einem Lastwagen gefallen ist“, sagt sie. „Ich habe die dunkle Ahnung, dass es noch andere gibt, die sind wie ich, andere, bei denen ich mich zu Hause fühlen würde, aber die sind nicht hier. Ich liege hier rum, an einem Ort, an den ich nicht gehöre, ganz alleine. Und ich bin aus eigener Kraft nicht dazu in der Lage, hier wegzukommen. Es ist nicht einmal möglich, dass mich jemand aufhebt und mich dorthin bringt, wo ich hin soll, denn niemand weiß, wo mein Bestimmungsort eigentlich ist. Der Lastwagen ist schon längst wieder beladen worden, mit anderen Gegenständen, und auf der Reise an ein völlig anderes Ziel.“

„Nette Metapher“, sagt er, „aber dieses Gefühl ist so verflucht typisch, dass man schon wieder ein ‘arche-’ davorklemmen könnte. Das Drama des Invidualismus, das Gefühl der Verlorenheit und Einsamkeit. Diese brutale Empfindung, völlig anders zu sein als der Rest der Leute, die man halb verabscheut und halb genießt, bei der gleichzeitigen Ahnung, dass irgendwo da draußen jemand ist, der einem exakt gleichen könnte? Das kann vermutlich so ziemlich jeder von sich behaupten.“

„Ich glaube“, sagt sie, „Du bist auch von einem Lastwagen gefallen. Aber Du redest Dir lieber ein, dass es nicht so ist, damit Du nicht so traurig davon wirst.“


Narzissmus und Kakteen.

Eins.

„Mein Verstand greift gierig nach allem, das er dort findet, meine Finger umklammern alle existierenden Eventualitäten und die Dinge, die sonst noch erreichbar sind. Es ist wenig bis nichts, es passt in eine einzelne Hand, aber man muss sich eingestehen, dass es schön glitzert, das kannst selbst Du sehen. Zumindest hofft das ein Teil von mir, dieser Teil, der sich im Kreis um mich selbst dreht und der dieses Selbst noch immer als ein Wir liest, in dem das Du bereits gar nicht mehr existiert, weil es wie selbstverständlich absorbiert wurde und sich absorbieren hat lassen. Menschen sprechen manchmal mit Pflanzen. Sie murmeln Hauptsätze, in seltenen Fällen sogar mit besonderer Mühe angefertigte parataktische Konstruktionen in ihre Kakteen, während sie Gießkannen in der Hand halten. Ich kann diese Menschen verstehen, ich bin in gewisser Hinsicht noch schlimmer.“ – „Glaubst Du, dass Du verstehst, was Du da sagst?“ – „Ja.“ – „Du bist ein Betrüger. Du liest kein Wir, Du liest ein erweitertes Ich.“

Zwei.

Die Leute gucken mir in die Augen, das ist revierverletzend. In dem vom Regen ganz silbrigen Kreis, den ich um mich gezogen habe, koche ich Erinnerungen auf und versuche weiterhin, Deine Gegenwart und Körperlichkeit zu ignorieren. Ich kann meine Sätze einfach nicht bändigen, ich bin kein Dompteur wie die Anderen und ich schere mich nicht um mich selbst oder die Zukunft. Ziellose Vogelspuren im Schnee und meine neurotische Art. Du bist nicht meine Muse, denn das hier ist keine Kunst. Menschen sprechen manchmal mit Pflanzen. Sie murmeln Hauptsätze, in seltenen Fällen sogar mit besondere Mühe angefertigte parataktische Konstruktionen in ihre Kakteen, während sie Gießkannen in der Hand halten. Ich kann diese Menschen verstehen, ich bin in gewisser Hinsicht noch schlimmer.


Merksätze.

Je mehr Optionen der Mensch hat, desto bescheuerter wird er. Desto unmenschlicher handelt er, desto mehr verliert er den Blick auf die Dinge und anderen Menschen, die wirklich wichtig sind, desto mehr verliert er sich in leeren Handlungen und verirrt sich auf völlig bedeutungslosen Wegen, die er irgendwann zurück gehen muss, nur um wieder an den Startpunkt zu gelangen. Deswegen beschneide ich ab heute meine eigenen Optionen.

Zuerst beschneide ich die Zahl der Menschen, die in meinem Leben eine Rolle spielen, die Menschen, mit denen ich überhalb einer emotionslosen, professionellen Ebene kommuniziere. Ich lege außerdem Hürden fest, die von in der Zukunft auftauchenden Menschen zu nehmen sind, bevor sie in mein Leben treten können. Es werden sehr hohe Hürden, und es wird dauern, bis sich auch nur ein Mensch findet, der in der Lage und auch noch Willens ist, sie zu nehmen, aber diese Hürden werden ein für alle mal sicherstellen, dass nicht mehr jeder dahergelaufene Trottel in meinem naiven Gemüth eine Verwüstung anrichten kann, deren Behebung mich Monate oder gar Jahre meines Lebens kostet, wie es in der Vergangenheit viel zu oft geschehen ist (oder zumindest, dass es nur diejenigen Trottel können, die ich selbst dazu eingeladen habe). Anschließend beschneide ich die Art der Tätigkeiten, die ich ausführe. Ich lege jene Tätigkeiten, die ich ganz offensichtlich nicht ausführe, weil ich sie selbst gewählt habe, sondern nur deswegen, weil man „das so macht“, zu den Akten und behalte nur die Art von regelmäßigen Handlungen, die mir tatsächlich am Herzen liegen.

Ich lege ferner exakt fest, welche Ziele ich mit dem, was ich weiterhin tue, erreichen will und auf welchen Wegen ich diese Ziele erreichen kann. Wenn ich für einen bestimmten Bereich kein exaktes Ziel definieren kann, dann erfinde ich ein möglichst unerreichbares Ziel, mit dem ich Jahre zu tun haben werde. Ich beobachte in Zukunft genau, wie ich handle, und ich werde den Handlungsprozess so optimieren, dass er im Laufe der Zeit immer perfekter wird. Ich evaluiere, was ich mit den mir bereits zur Verfügung stehenden Mitteln schaffen kann und an welchen Stellen ich zusätzliche Fähigkeiten erwerben muss, und dann erwerbe ich diese Fähigkeiten. Ich bleibe nicht mehr stehen und ich gehe ohne Rücksicht auf meine eigenen emotionalen Befindlichkeiten oder auf Menschen, deren beschränkte Wahrnehmung mich hemmen könnte, auf meine Ziele zu. Und ich gehe so lange, bis ich sie erreicht habe. Es ist der einzige Weg.

Ich bin mir nicht sicher, ob dieser Text eine Verwandlung in einen rücksichtslosen Pragmatiker oder in einen ganz normalen Menschen beschreibt. Oder beides.


Wortspiegel.

Mein Name ist Walter und male Sprachbilder. Bestimmt kennen sie welche von meinen Bildern, vielleicht das mit den beiden hälsisch ineinander verschlungenen Giraffen, die ein Baumhaus aus gepanschtem Acrylamid bewohnen oder das mit dem implodierenden Fixstern, um den in instabiler Umlaufbahn tausende farblose Weltraumelefanten kreisen. Meine Sprachbilder hängen in ein paar Museen, sie werden jedenfalls oft von Leuten gesehen und diese Leute malen dann oft selbst welche und schicken sie mir, oder sie schicken mir lange Briefe, aber ich werfe das meiste von diesem Zeug gleich in den Müll und lasse mein Bureau so eine vorgefertigte Dankeskarte schicken, die aussieht, als hätte ich sie selbst per Hand geschrieben. Das ist mir schon irgendwie wichtig, schließlich finanzieren diese Leute, die mir schreiben, am Ende das ganze Bureau und den ganzen unnützen Krempel, den ich hier so ansammle. Manchmal sind auch richtig gute Sachen dabei, aber das kommt eher selten vor. Mein berühmtestes Bild handelt von diesen seltenen guten Sachen, es ist das mit den Affen und den Schreibmaschinen.  Tiere sind bei mir irgendwie ein roter Faden, aber ich will sie nicht mit Kunsttheorie nerven. Jedenfalls male ich jeden Tag ein Sprachbild, schon seit meiner Kindheit. Ich kann inzwischen gut genug davon leben, um mein Haus nur dann verlassen zu müssen, wenn mir wirklich danach ist, und nicht, um irgendwelchen Zwängen zu folgen. Nahrung und andere Einkäufe lasse ich mir zum Beispiel ziemlich häufig liefern. Ich werde oft als verrückt bezeichnet, aber das ist es nicht, ich bin nicht verrückt, ich bin bei guter geistiger Gesundheit, auch nicht egozentrisch, weil ich mir nicht viel aus mir selbst mache, ich kämme zum Beispiel fast nie meine Haare. Allerhöchstens bin ich vielleicht ein kleines bisschen unnormal, aber ich benutze das Wort nicht in dem negativ konnotierten Sinne, denn „normal“ ist unter den Menschen leider kein einziger, das habe ich zu der Zeit festgestellt, als ich noch verheiratet war und mit viel zu vielen von ihnen zu tun hatte. Sie befolgen nur oft sehr merkwürdige Regeln, weil sie nicht mutig genug sind, so zu sein, wie sie eigentlich sind oder nicht kreativ genug, so etwas wie eine eigene Persönlichkeit überhaupt erst zu entwickeln (das sind die Schlimmsten, ich bin mir aber gar nicht sicher, ob es die überhaupt gibt, oder ob sie nur die größten Feiglinge unter denen sind, die nicht mutig genug sind, d.h. so feige, dass sie als Ausrede, warum sie nicht sie selbst sein können, den Trick anwenden, zu behaupten, dass es ihr selbst gar nicht gäbe).

Wegen diesen ganzen Gedanken, die ich mir mache, bin ich nun leider nicht dumm genug, um den Großteil der anderen Menschen zu ertragen. Deswegen beschimpfe ich sie manchmal in meinen Sprachbildern, was Sie vielleicht im Ansatz auch in diesem Text schon gemerkt haben. Nur hilft das leider keineswegs, sie mir endgültig vom Hals zu schaffen, im Gegenteil macht mich das für viele nur sympathischer und das kommt so: Es gibt zwei Rezeptionsgruppen von denen, die ich mit meinen Bildern oft beschimpfe: Die Einen merken gar nicht erst, dass ich sie beschimpfe (das sind absurderweise die besonders Beschimpfenswerten), sie glauben, dass ich über Andere schimpfe und lachen mit mir über diese von ihnen imaginierten Anderen, die sie eigentlich selbst sind. Die zweite Gruppe tut so, als wäre sie selbstironisch und würde über sich selbst lachen, wenn sie eine Beschimpfung gelesen hat. Sie behauptet dann, dass es wirklich gut wäre, wenn man ab und zu einen Spiegel vorgehalten bekommt. Ich kann das nicht beurteilen, aber wenn ich mir selbst einen Spiegel vorhalte, dann erschrecke ich doch meist eher etwas (manchmal über mich, manchmal darüber, dass ich das mit dem Spiegel gemacht habe), deswegen tue ich das nicht sonderlich oft. Da sich also nun im Ergebnis herausstellt, dass beide Gruppen im Kern nicht wirklich verstehen, dass ich sie eigentlich dauernd beschimpfe, stachelt mich das natürlich zu noch wüsteren Beschimpfungen an, die wiederum noch begeisterter aufgenommen werden, ich glaube, Sie verstehen das Prinzip, das ich meine, das hat im Laufe der Zeit ein ganz eigenes Genre meiner Sprachbilder hervorgebracht, das in ähnlicher Form auch von diesen amerikanischen Sprechgesangskünstlern gepflegt wird. Oft lerne ich auf meinen Vernissagen aber auch solche Menschen kennen, die Sachen machen, die mich immer wieder neu begeistern können. Wenn ich ehrlich bin, dann interessieren mich in 90% der Fälle  aber auch eher die Sachen, die diese Leute so machen, denn ganz viele von denen sind so verrückt wie Berufspolitiker oder irgendetwas noch Schlimmeres, vielleicht Hals-Nasen-Ohrenärzte. Ich kenne keine Hals-Nasen-Ohrenärzte persönlich, aber ich mag mir nicht einmal ausmalen, was mit einem passiert, wenn man sich am Abend im Bett mit der grauenhaften Erkenntnis konfrontiert sieht, für Rest seine Lebens jeden einzelnen Tag in der Hauptsache damit verbringen zu müssen, in anderer Leute Ohren hineinzugucken. Mir geht’s um die 10%.

Heute habe ich wieder ein Sprachbild gemalt. Es geht um mich selbst und ist ziemlich aufwändig gestaltet, mit vielen Sätzen und Buchstaben versehen und es hat sogar Klammern. Und irgendwie gefällt es mir nicht so richtig, das ist vielleicht so ähnlich wie diese Geschichte mit dem Spiegel. Und dann habe ich mir gedacht: Was wäre eigentlich, wenn man diese Leute, über die man sowieso immer nur schimpfen will, einfach komplett ausblenden könnte und nur noch die behält, die einen wirklich herausfordern mit dem, was sie tagtäglich so fabrizieren, und damit meine ich sicherlich nicht die, die einem nur nach dem Mund reden, was sich hoffentlich von selbst versteht. Das wäre doch eine gute Idee. Schließlich wird das Sich-Ärgern am Ende auch nur von der Zeit abgezogen, die einem bleibt, bis man, umringt von finster dreinblickenden Verwandten, unter einem Stein verbuddelt wird. Ich denke gerade darüber nach, wie man das bewerkstelligen könnte.


Spieler.

Und als es vorbei war, in dieser einen, gar nicht einmal kalten, lichtverschmutzten Nacht, in der man selbst am höchsten Punkt der Stadt keine Sterne mehr sehen konnte, als das Leben ein Full House auf den Tisch legte, drei Damen, aber nur zwei Buben, da fuhr ich nach Hause, betrunken, um sechs Uhr morgens, nicht in der Lage, meine Sinne zu beherrschen, als neben mir in der U-Bahn ein zwei Meter großer Schwarzer mit komplett weißen Klamotten Platz nahm, obwohl die Bahn zu dieser Zeit komplett leer war und er sich überall hätte hinsetzen können, der mir wie ein Bote erschien, und dann, als ich nach vierhundertdreiundsechzig (meistens brauche ich weniger) Schritten die alte Tür meiner Wohnung aufgeschlossen hatte, zog ich den Joker aus meinem Ärmel. Ich konnte nicht gewinnen, ich hatte kein einziges Ass auf der Hand, nur buntgemischte Zahlen, aber es war mir egal.

Ich rief ihn an und sagte ihm, dass er hierher kommen solle, er wusste sofort, dass ich es war, die anrief, trotzdem ich ihn geweckt hatte und er meine Telefonnummer nicht sehen konnte. Am nächsten Tag holte ich ihn vom Bahnhof ab. Ich erkannte ihn schon aus der Ferne und lief auf ihn zu und umarmte ihn und er sagte: „Ich habe Dich vermisst“, obwohl er mich noch nie zuvor gesehen hatte. Und ich sagte: „Geh nicht wieder weg“ und es war wie so ein billiger Groschenroman, aber er ging nicht mehr weg. Das alles passierte im Dezember und jetzt haben wir Juli und er sitzt drüben und liest ein Buch, irgendeins, es ist nicht wichtig, was er liest, er glaubt nicht an Groschenromane und liest sie nicht. „Und was soll diese Geschichte beweisen?“ fragt mich jemand, der ich selbst bin und dann antworte ich: Dass es nicht darauf ankommt, welche Karten man auf der Hand und wie viele Joker man noch im Ärmel hat, sondern dass man einfach nur spielen muss und im Notfall sogar ein Bluff die beste Option ist. Man kann selten dauerhaft gewinnen, das Spiel ist so konzipiert, dass das Casino am Ende immer im Plus bleibt, aber das Spielen an sich bringt doch in schöner Regelmäßigkeit Gewinne, die das Leben ausmachen, auch wenn man sie meist später wieder verzockt.


Nähe.

Wie man sich fremd ist. Und oft sind sich die Menschen, die einander am nächsten sind, am fremdesten. Das liegt daran, dass sie sich Sachen hinwerfen in dem Glauben, dass der Andere schon verstehen würde, ja, verstehen müsse, nach all dem, was war, aber das doch nicht passiert. Das passiert deswegen nicht, weil wir Menschen einander nie ganz verstehen können, auch wenn wir extra die Sprache und so viele in ihr enthaltene Wörter erfunden haben, um wenigstens so zu tun, als könnten wir es. Und dann türmt sich das von beiden Seiten Hingeworfene, von dem jeder glaubt, der Andere hätte es ganz bestimmt mit sich genommen, langsam immer weiter auf, wie zu einer Mauer zwischen den beiden sich doch so nahestehenden und permanent miteinander kommunizierenden Personen und bevor sie es merken, stehen sie von einander isoliert, zwischen ihnen ein Berg aus ausgesprochenen und unausgesprochenen Gedanken. Und irgendwann sagt einer von ihnen: „Ich habe das Gefühl, Du hast mich eigentlich nie wirklich verstanden.“ Und der Andere antwortet: „Das Gefühl habe ich auch.“ Und wenn sie dann nicht anfangen, die ganzen Dinge nach und nach aufzuheben, die auf dem Haufen liegen, sie sich zu zeigen und einander zu erklären, was diese Dinge bedeuten, dann verstehen sie nicht einmal, warum sie sich nicht verstehen können und schütteln noch auf Jahre verständnislos ihre Köpfe, wenn Freunde den Namen des Anderen auch nur erwähnen.


Kreis.

Wenn Du irgendwann zu verstehen beginnst, dass das ganze Leben ein Warten auf den Tod ist, dass jeder Mensch am Ende merkt, dass er sein ganzes Leben nur gekämpft und nach etwas gesucht hat, dass doch nie zu finden war und dass das etwas ist, das jeder von uns verstehen muss, jeder Einzelne und jeder für sich, dann wirst Du mich darum beneiden, dass ich immer nur getan habe, was ich wollte, dass ich um mein Leben geschrieben habe. Mein ganzes Leben lang habe ich für diese Momente gekämpft, in denen ich die Zeit dazu hatte und mein ganzes Leben nach den richtigen Worten gesucht.

Ich beneide Dich heimlich darum, dass Du nichts derart Sinnloses tust. 


Zwischendrin.

Zwischenzustände haben mich schon von jeher fasziniert. Orte, an denen das Land das Meer berührt, der Übergang vom Tag zur Nacht und umgekehrt, der perfekte Moment eines Rausches, Tagträume, mit geschlossenen Augen Musik über Kopfhörer konsumieren und dabei hellwach blieben, sich aus der Realität fortschreiben oder -lesen, und dennoch den eigenen Körper als in regelmäßigen Abständen Aufmerksamkeit forderndes Anhängsel immer wieder wahrnehmen, mit einer Gruppe von Menschen unterwegs, aber kein Mitglied von ihr zu sein, das Verlieben.

Diese Dinge sind jederzeit instabil, kleinste Veränderungen von außen oder innen lassen sie kippen und dann werden sie zu schalen, abgeschmackten Schatten ihrer selbst, zu der Art Kitsch, als die sie pragmatisches Persönlichkeiten, die sich gegen derartige Erlebnisse sperren, von vornherein abtun. Sich in Zwischenzuständen zu bewegen ist deswegen immer ein Balanceakt. Das Paradoxe daran ist, dass es einerseits ein hohes Maß an Konzentration verlangt, sich andererseits aber wie freies Schweben anfühlt, sich auf dem schmalen Grad zu halten.


Falsche Fragen.

„Warum bin ich hier?“

„Wo hier?“

„Warum bin ich hier? Warum bin ich in Deinem Bett?“

„Ich war auch ganz schockiert, als ich es eben bemerkte.“

„Hör mal kurz auf, albern zu sein.“

„Ich weiß es nicht: Warum bist Du denn in meinem Bett?“

„Ich habe Dir die Frage gestellt.“

„Keine Ahnung. Es fühlt sich gut an. Fühlt es sich nicht gut an?“

„Doch.“

„Welche Antwort hast Du denn erwartet?“

„Ich weiß nicht. Wenn Du gesagt hättest: Du bist hier, weil wir bereits drei Tage miteinander auf Reisen sind und das passiert nunmal in einigen Fällen, wenn Menschen beiderlei Geschlechts Zeit miteinander verbringen, dann wäre das in Ordnung. Verstehst Du nicht? Ich will in Nichts hineingeraten, das denke ich.“

„Vielleicht denkst Du zu viel.“

„Du denkst überhaupt nicht nach, oder?“

„Doch, mehr als Du, vermutlich. Aber ich lasse es mir nicht anmerken, um den Moment nicht zu versauen.“


Fragestunde (X)

a) Welches Verhältnis pflegst Du zu den Menschen, mit denen Du eine Beziehung hattest?

b) Bist Du noch mit diesen Menschen in Kontakt und wenn ja: Würdest Du das jetzige Verhältnis Freundschaft nennen? Wenn nein: Woran liegt das Deiner Meinung nach in dem speziellen Fall, an den Du beim Lesen der Frage dachtest, und woran generell?

c) Hat die Art und Weise des heutigen Kontakts für Dich auch damit zu tun, wie die Beziehung endete? Wenn ja oder nein: Was sagt das über Dich als Person aus?

d) Was unterscheidet Deiner Meinung nach eine Liebesbeziehung von einer Freundschaft und warum kann sich das eine (nicht) in das andere verwandeln?