Exi(s)t (2010)
„Ich wollte Dich doch anrufen. Es kam was dazwischen.“
„Was kam denn dazwischen?“
„Ich weiß nicht. Das Leben, wahrscheinlich.“
„Das Leben kommt immer dazwischen, oder?“
„Ja, ich schätze schon. Meinst Du, es gibt die Chance, dass zwischen uns keine Klamotten sind, wenn wir uns das nächste Mal sehen?“
„Ich schätze, das kommt sehr darauf an, was Du zwischenzeitlich so getrieben hast und ob Du Dir zwischen uns inzwischen mehr als keine Klamotten vorstellen kannst.“
„Das klingt wie ein Ja unter Vorbehalt.“
„Wahrscheinlich, weil es ein Ja unter Vorbehalt ist.“
„Lass uns treffen.“
„Das muss lass uns uns treffen heißen.“
„Lass uns einander treffen.“
„Wann und wo denn?“
„Keine Ahnung. Ich ruf Dich morgen an.“
„Falls nichts dazwischenkommt?“
„Genau.“
Schreiben, das ist Dinge aus dem Kopf zu verbannen in die Unsterblichkeit.
“PURE MAGIE / Stimme sprach die feurigen Armen, Kindlein das LiebesManna.”
“Freigeist messgerät / DESIGN ist Luft”
“6000 Sprachlose GeschmacksErmittler”
Diese Atmosphäre kurz vor einem Gewitter, wenn alles in stärkere und unwirkliche Farben getaucht ist. So fühlte es sich an. Ich saß an meinem Schreibtisch und öffnete das Programm – Open Office, meine Freunde rieten mir immer zu Word, aber ich hatte es nicht hinbekommen, mir das Ding illegal zu besorgen und ich hegte zu wenig Sympathie für Microsoft, um der Firma Geld in den Rachen zu werden – aber es kam wieder nichts aus mir heraus. Schreibblockade. Es ist ein absolut grauenhaftes Gefühl, keine Worte zu finden, wenn man sonst ständig und überall erzählt, dass das Schreiben das Einzige wäre, das einen wirklich glücklich macht. Eine plötzlich auftretende Blockade (bei mir kommen die Dinger niemals schleichend) macht einen Schreiber von einer Sekunde auf die andere zu einem überflüssigen Fleischhaufen, der irgendwo in einer Wohnung vor sich hingammelt.
Irgendjemand hat mir einmal erzählt, dass der längste Schluckauf 70 Jahre gedauert habe. Ich habe das nie nachgeprüft, aber immer wenn ich eine Blockade habe, dann muss ich daran denken, dass sie auch so lange dauern könnte wie der längste Schluckauf der Menschheitsgeschichte. Möglicherweise sogar länger, falls ich in den nächsten 70 Jahrens das Zeitliche segne, wovon bei meinem Lebenswandel im Grunde fest auszugehen ist. Der Gedanke an den Schluckauf ist inzwischen zu einem von mir mit mir selbst veranstalteten Ritual geworden, in den Phasen, ich über Tage keinen vernünftigen Satz formulieren kann. Das leere Blatt, standardmäßig eingestellt auf Times New Roman (serifenlose Schriftarten liegen mir bei der ersten Formulierung von Gedanken nicht, ich muss mich an den Haken und Ösen noch unfertiger Sätze entlanghangeln können), starrt mich dann auf eine Art und Weise an, die dafür sorgt, dass mir körperlich schlecht wird. Nicht selten so sehr, dass ich nach einigen Minuten einen Würgereiz bekomme und das Programm schließen muss. Es fühlt sich an, als würde die weiße Fläche direkt in meinen Kopf hineinglotzen. Nietzsche hatte keinen Computer, aber ich glaube, dass dieses von Schwachköpfen aller Arten, die eigentlich keine Zeile Nietzsche gelesen haben, gern benutzte Zitat von ihm mit dem Abgrund genau jenes Gefühl beschreibt, das ich empfinde, wenn ich an solchen Tagen vor dem Computer sitze und versuche, einen Text zu produzieren.
Man kann es nicht erzwingen, wenn man Nichts schreiben kann, auch wenn ich selbst oft gerne das Gegenteil behaupte. Freunden, die irgendwann in ihrer Jugend mal Gedichte und Tagebücher geschrieben haben und gerne wieder etwas zu Papier bringen würden, aber nicht wissen, wo und wie sie damit anfangen sollen, erzähle ich oft, dass es mit Inspiration nichts zu tun hätte. Man müsse nur Buchstabe an Buchstabe setzen, die Nummer wäre eher wie Fahrradfahren. Ich sage das, weil es gut klingt und wenn es nur einen einzigen Menschen dazu bringt, regelmäßig Gedanken zu verschriftlichen, dann hatte die Lüge schon ihren Sinn. Sie stimmt auf eine gewisse Art auch tatsächlich, aber andererseits sollte man, wenn man auf ein Fahrrad steigt, auch wissen, wo man verdammt noch mal hin will, sonst fährt man schurgerade gegen die nächste Wand, die im Weg rumsteht. Und ich habe in diesen Fällen, um die es hier geht, meistens das ungute Gefühl, meine Umgebung wäre mit ziemlich harten Wänden geradezu gepflastert.
Seltsamerweise fallen die Schreibblockaden immer auf die Phasen in meinem Leben, in denen ich sehr viele Sachen erlebe, fast so, als könnte sich meine Phantasie nur dann wirklich ungehemmt austoben, wenn ich gelangweilt und alleine in einer dunklen Kammer sitze und wochenlang mit niemandem rede. Als meine letzte Blockade mich voll erwischte, hatte ich gerade einen Sack neuer Menschen am Wegesrand gefunden, mit denen ich mich auf verschiedene Arten zu beschäftigen wusste (was insbesondere die junge Dame betraf, die bei einer der Parties meines besten Freundes aus Studienzeiten sturzbetrunken über meine Beine und anschließend direkt in mein Leben gestolpert war), mein Leben streunte also quietschbunt und chaotisch dahin, scheinbar ohne zu wissen, was es genau wollte, und ich hatte mich einfach hineinfallen lassen in diesen Strom aus Dingen, die ohne mein größeres Zutun einfach passierten und trieb dahin. Ich wusste, dass es ein Problem für mich werden könnte, aber ich tat dennoch wochenlang nichts dagegen.
Glücklicherweise vergrabe ich Nüsse. Wenn man ein kreatives Hobby hat und das Ganze mit einer gewissen Ernsthaftigkeit verfolgen will, dann ist es nie ratsam, alles zu veröffentlichen, selbst wenn die Produktivität auf einem der seltenen Hochs ist, an dem das Hirn jeden Tag mehrere Photos, Texte und Bilder auswirft, und man sich fühlt, als wäre der zugehörige Körper nur eine überflüssige und leider notwendige Maschine, die nie richtig gut funktioniert, weil sie alle 24 Stunden gefüttert und für mehrere Stunden abgeschaltet werden muss. Es ist immer ratsam, den eigenen Rhythmus einigermaßen beizubehalten, egal, wie gut es läuft, und alles, was überschüssig ist, zu sammeln. Ich sammle phasenweise massiv viel für schlechte Zeiten und das Ganze hat eine Eigendynamik entwickelt, die groteske Datenberge in unzähligen Ordnern auf meiner alten Festplatte anhäuft mit Dingen, die vielleicht nie jemand zu Gesicht bekommen wird, aber immer in den Zeiten, in denen ich an den Schluckauf denken muss und in denen mir beim Anblick eines leeren Office-Dokumentes schlecht wird, bin ich sehr froh darüber, dass es diese Verzeichnisse gibt. Einig der Sachen verderben im Laufe der Zeit, fühlen sich irgendwie ranzig an, wenn man sie viel später noch einmal betrachtet, und man muss sie entsorgen, aber das meiste davon bleibt erstaunlich frisch. Mal sehen, wie es diesen Zeilen ergeht.
Zu zweit der Zeit komplett entrückt,
im Falle, dass Amor auf Chronos zielt und trifft.
Ich kenne mein Los
von SG Bangs
Mein Name ist Simon Gabriel Bangs und ich bin Journalist. Nein, nicht die Art von Journalist. Ich bin keine schleimige, arschkriechende Kröte, die im Sendung mit der Maus-Duktus für die Dummen über Politik oder Medien schreibt, und sich dabei nicht traut, etwas zu sagen, dass über bloßes Nacherzählen von Handlungsabläufen mit ein paar sarkastischen Untertönen hinausgeht, die sowieso nur die bemerken, denen man den Scheiß eigentlich gar nicht erklären muss. Ich bin auch keiner von denen, die sich wie Parasiten an ein bestimmtes Thema oder bestimmte Personen klammern und in einer Art von symbiotischer Hassliebe auf genau dem hängen bleiben, das sie, wenn es, wie sie so oft in ihren „kritischen“ Artikeln fordern, abgeschafft würde, arbeitslos und mit innerer Leere zurücklassen würde. Nein. Ich schreibe über das Leben und das, was da draußen so passiert. Ich schreibe Essays über das, was mit mir geschieht, wenn ich die Stadt unter meinen Füßen und den Geruch von ihrer Natur entfremdeten Menschen in meiner Nase habe. Mindestens 7000 Zeichen, das ist die einzige Vorgabe für einen meiner monatlichen Artikel in der Zeitung, für die ich mich dort draußen herumtreibe. Wäre es nicht um des Schreibens willen, dann hätte ich schon lange aufgehört, meine Wohnung zu verlassen. Ich bin die Menschen eigentlich leid. Ich bin ihre Dummheit und Ignoranz leid, es ist so sinnlos, gegen diese kollektive Apathie anzukämpfen. Kaum hat man zwei Idioten nach wochenlanger Überzeugungsarbeit von irgendetwas begeistert, schon wachsen vier andere Trottel nach, die dieselben alten Dummheiten wiederholen und weiter zementieren. Es frustriert mich, aber andererseits hält mich genau das im Geschäft. Ich habe immer gesagt: „Je dümmer die Menschen, desto höher mein Marktwert“, und ich glaube, dass das der Kern ist, aber es ist auch das zentrale Dilemma, dem ich nicht entkomme. Wissen Sie: Früher dachte ich, dass es ein Problem des Ortes wäre. Ich träumte immer davon, dem kleinen Dörfchen, in dem ich wohnte, in dem die Namen Franz Kafka, Emily The Strange und Hunter S. Thompson nicht mehr waren als etwas, das man im Glücksfall irgendwo schon mal aufgeschnappt hatte, zu entkommen und in die große Stadt auszuwandern, wo ich, so zumindest glaubte ich, meinesgleichen finden würde. Irgendwann schaffte ich es dort raus. Die Städte wurden über die Jahre größer und größer, aber ich fand dennoch nie diese Menschen, die ich suchte. Ich blieb allein. Also begann ich zu schreiben. Ich schrieb mir jede Nacht mein Gehirn aus dem Leib und je mehr ich schrieb, desto mehr hatte ich das Gefühl, endlich zu einem Ich zu finden, dass diesen Antrieb, andere Menschen kennen zu lernen, nicht mehr als Grundlage für sein eigenes Dasein brauchte. Ich war einfach nur noch. Und ich war verdammt glücklich damit.
Am liebsten schreibe ich über das Schreiben. Sie würden das Selbstreflexivität nennen, weil Sie ein schmieriger, pseudointellektueller Wichser sind, der das Prinzip aus seinem eigenen Handeln kennt und es gerne vor sich und vor anderen rechtfertigen will, ohne zugeben zu müssen, worum es sich dabei eigentlich handelt. Ich sage Ihnen, was es wirklich ist, wenn man über das schreibt, was man sowieso die ganze Zeit tut: Sich gehörig einen runterzuholen auf sich selbst, das ist es. Mehr nicht. Kaboom. Und jetzt erzählen Sie mir nicht, dass ich die Unwahrheit sage, ich kann Ihr zustimmendes Altherrengrinsen durch die Zeilen hindurch sehen. Ich schreibe über das Schreiben. Ich kann Ihnen zwanzigtausend Worte voller blumiger Metaphern und Chiffren für den Schreibprozess um die Ohren hauen, die Sie absolut davon überzeugen werden, dass ich die Sache verstehe, dass ich das Ganze durchschaut habe, die am Ende aber allesamt riesengroßer Bullshit sind, den ich beim Tippen einfach erfinde. Lassen Sie es mich so formulieren: Schreiben besteht eigentlich aus zwei Teilen: Aus dem Leben und aus dem Lesen. Sie können nicht schreiben, wenn Sie nichts erleben, denn sonst kopieren sie nur sinnlos Gefühle aus Novellen und Romanen, die Sie selbst gar nicht nachvollziehen können. Andererseits aber können Sie nichts von dem, was Sie da draußen erleben, festhalten, wenn ihnen das Vokabular fehlt, das Sie wiederum nur über den Konsum von Literatur erwerben können. Verstanden? Sie fallen an dieser Stelle auf das rein, was ich drei Sätze vorher erklärt habe: Das ist natürlich kompletter Nonsense. Schreiben Sie einfach drauf los, egal, wer oder wo Sie sind und lassen Sie dabei alle Hemmungen und Blockaden in Ihrem Kopf fallen. Wenn Sie schreiben, dann passiert das ganz automatisch. Sehen Sie? Sie glauben mir schon wieder, obwohl ich sie gerade eben erst aufs Kreuz gelegt habe.
Vor ein paar Jahren habe ich einen Roman geschrieben. Eine Polemik, unter einem der zig Pseudonyme, die ich mir im Laufe der Zeit zugelegt habe, um ein paar unterschiedliche Perspektiven auszuleben, die ich nicht mit mir als Person in Verbindung gebracht haben wollte, weil die Leute trotz dreihundert Jahren Literaturwissenschaft nicht in der Lage sind, einen Text von seinem Autor zu trennen und als ein Stück eigenständige Kunst zu betrachten. „Also sprach Zarathustra“ auf Crack in der Postmoderne, wenn sie es zu einer billigen Schlagzeile verdichtet hören wollen. Es wurde glatt in der Luft zerrissen. Ich liebte es, wie es missverstanden und zerfetzt wurde und in den Kommentarspalten der großen Zeitungen und Blogs wetterte ich selbst am leidenschaftlichsten gegen das Buch. Es landete in der ersten Woche auf Platz Eins der Bestsellerlisten und blieb dort lange genug, um mir für den Rest meines Lebens meine zur damaligen Zeit gleichermaßen auf den Gipfel wachsende Zuneigung zum Alkohol und anderen Mittelchen nebst Autos, Wohnungen, Frauen und sonstigen Dekadenzien zu finanzieren. Um ehrlich zu sein interessierte mich dieser ganze Kram aber nie wirklich (ja, ich brauchte einige Zeit, um das zu verstehen). Das wirklich Gute daran war nicht das Geld, sondern die Freiheit und der Ruhm. Und die Ehrfurcht in gewissen Kreisen geradliniger Typen, in denen ich mit meiner verwinkelten Persönlichkeit vorher nur aneckte. Ich konnte also locker mit verfilzten, ungewaschenen Haaren, einem ausgebleichten Godspeed You Black Emperor-Shirt und einer selbstgedrehten Zigarette im Mundwinkel mitten in die angesehene Redaktion der Zeitung, für die ich diese Zeilen hier tippe, reinspazieren und alle wichen ehrfürchtig vor mir zurück, als wäre plötzlich ein Gespenst in ihrer Mitte aufgetaucht. Ein wandelndes Klischee, das war ich, und ich wandelte schnurstracks in das überdimensionierte Büro des Chefredakteurs und holte mir diesen Job. Und nun sitze ich hier und tippe. Mindestens siebentausend Zeichen. Zwei lange Spalten und ich habe keine Angst davor, dass ich es nicht schaffe, den Platz zu füllen, keine Angst vor den Reaktionen irgendwelcher Menschen, die in meinem Leben sowieso nie eine Rolle gespielt haben und nie eine Rolle spielen werden, weil sie die Art von Menschen sind, die ihren Kindern später erklären müssen, dass sie ihr Leben damit verbracht haben, unzeitlose Sachen über diese kompletten Versager in der Politik in ihre Tastaturen gehämmert zu haben und doch nichts ändern konnten. Ich habe Angst vor mir selbst und vor dem, was diese Kolumne mit mir macht. Seit dem Buch habe ich nicht mehr ernsthaft geschrieben. Ich habe ein bisschen diese neuen Medien ausprobiert, mit den Clowns auf Twitter auf Wortspielchen rumgekaut, ein bisschen gebloggt und mich über die Dummheit in Blogs aufgeregt, hier und da Gedichte geschrieben, für die ich mich immer nur rechtfertigen musste (was weniger an den Gedichten selbst, als vielmehr daran lag, dass heute niemand mehr Gedichte schreibt und man unweigerlich so erscheint, als wäre man komplett aus der Zeit gefallen, wenn man sich an Lyrik versucht, die über das Niveau 16jähriger Emo-Mädchen auf Myspace hinausgeht) und mich immer wieder an diversen Experimenten versucht, die eigentlich ein Weglaufen waren. Das hier ist mein großes Comeback. Und ich freue mich irgendwie darauf, ein paar blutige Nasen zu verteilen, wenn ich ganz ehrlich sein soll.
“unterm Waffenrocke / Vorbei das Laeuten klang:”
Für Ju.
1. Viertel nach Vier.
Als Lisa erwachte, hörte sie ein Geräusch. Das irritierte sie. In ihrem Haus gab es normalerweise keine Geräusche und schon gar keine zu dem Zeitpunkt des Erwachens oder kurz danach. Sie schlug ihre Augen auf (was sie eigentlich immer erst mehrere Minuten nach dem Aufwachen tat, um den Übergang zwischen Traumland und realer Welt sanfter zu gestalten) und blickte sich in ihrem Schlafzimmer um: Es war nicht auszumachen, was das Geräusch verursacht haben könnte und auch die Natur des Geräusches (es hatte sich bei dem Gehörten um ein dumpfes, völlig unmelodisches Gurgeln gehandelt, nicht etwa wie das Gurgeln von Wasser, dem, selbst wenn es Brackwasser ist, das den rostigen Abfluss der Toilette einer Altbauwohnung hinunterfliesst, doch immer eine gewisse phonetische Anmut innewohnt, die ihm von der Natur mitgegeben ist) ließ keinen Schluss auf seine Herkunft zu.
„Hallo?“ warf das Mädchen in den Raum, als ob es als Quelle des verwirrenden Tones jemanden oder etwas ausgemacht hätte, der auf Fragen auch antworten konnte. Aber es antwortete niemand. „Hallo!“ sagte Lisa erneut und dieses mal gab es keinen Zweifel daran, dass am Ende der Äußerung ein Ausrufezeichen stand. Ein paar Sekunden war alles still, dann gurgelte es wieder. „Das ist unter dem Teppich“, dachte sie, und noch bevor sie die durch diesen Gedanken in ihrem Kopf ausgelöste Assoziationskette zu Ende bringen konnte (ein Ende übrigens, das eine Wiederauffrischung eines alten Kindheitstraumas auslösen hätte können, welches daher rührte, dass sie den Kopf vor vielen Jahren einmal unter einen großen Teppich gesteckt hatte, um kurz nachzusehen, ob darunter wirklich Monstren lebten, dann immer weiter darunter gekrochen war und sich schließlich heillos in der Dunkelheit unter dem schweren, alten Gewebe verirrt hatte, bis sie nach Stunden von ihrem Vater entdeckt und befreit wurde, zu einem Zeitpunkt, zu dem sie sich bereits resignierend auf den aus ihrer Sicht in Kürze nahenden Tod eingestellt hatte), war der Gegenstand ihrer Aufmerksamkeit nicht mehr vorhanden. Der Teppich war einfach verschwunden.
Nun haben es Gegenstände in der Welt, in der wir uns befinden, im Allgemeinen nicht an sich, einfach zu verschwinden, es sei denn, es handelt sich dabei um skurrile Fundstücke aus dem Photoarchiv von Lisas Großmutter, die sich sehr häufig im Zusammenhang mit den Besuchen der jungen bei der alten Dame im Nichts auflösten, von daher ist es sicherlich nicht verwunderlich, dass die anfängliche Verwirrung auf Seiten der Protagonistin an dieser Stelle der Geschichte sehr plötzlich in Angst umschlug. Die Schallwellen eines schrillen Kreischens verbreiteteten sich bis in die hintersten Winkel des Hauses, dieses mal sehr genau einer Quelle zuordenbar (Lisas Mund), schafften es aber aus dem Zimmer im ersten Stock nicht, bis zu den Nachbarn zu dringen, die sich im Vorgarten des angrenzenden Anwesens zu diesem Zeitpunkt bereits schmutzige Witze erzählten („Wer fickt besser, dein Hund oder der Postbote?“), Long-Island Ice Tea tranken und ihre Vorliebe für skurrile Sonnenhüte offenherzig zur Schau stellten. Zur Verteidigung der Nachbarn (obwohl wirklich niemand in der ganzen Stadt die Langheinrichs wirklich verteidigen würde), könnte man anbringen, dass Lisa Langschläferin war, was die Sache mit dem Alkohol etwas relativiert, die Sonnenhutgeschichte aber keineswegs rechtfertigt.
[unleserliche Passage im Manuskript]
Und genau genommen war Schlafen auch schon das einzige, das Lisa wirklich gerne tat. Manchmal fand sie auch Spass daran, Männer emotional zu quälen, aber in den meisten Fällen schien ihr das deutlich zu anstrengend angesichts dessen, was man für die ganze Mühe an wenig innovativen Reaktionen von Seiten der mit Penis bestückten Hälfte der Gesellschaft geboten bekam.
—
2. Gespenster im Hof.
„Jetzt mal ehrlich: Ich will Dir doch bloß helfen, Simon“, sagte er. Ich verschränkte die Arme vor mir. Es war Antwort genug.
Er seufzte. „Ok, pass auf, ich erkläre es Dir anders: Es ist sicherlich ein guter Einstieg. Alice meets Kafka, das Erwachen, eine merkwürdige Situation, ein junges Mädchen. Fast klassisch. Aber weißt Du denn wirklich, wo der Kram hinführen soll? Sei mal bitte ehrlich.“
„Ich habe den Schlusssatz schon geschrieben“, sagte ich.
Frank zögerte kurz mit seiner Antwort, ein alter Trick von ihm, auf den ich immer wieder reinfiel. Wenn er auch nur eine Millisekunde zu lange nicht antwortete, dann fühlte ich mich meist derart verunsichert, dass ich damit begann, mich vor ihm zu rechtfertigen und ich tat das oft, indem ich seine Kompetenz in Frage stellte (was mir im Nachhinein in 95% aller Fälle schrecklich leid tat und schlussendlich zu vielen Erinnerung der Marke „weißt Du noch damals, als Du ausgetickt bist, obwohl ich Recht hatte“ führte).
„Was weißt Du denn davon? Du hast den Kram vielleicht auch studiert, aber guck Dich mal an in Deinem Anzug und in Deiner ganzen Arschkriecher-Art: Du bist nur ein verfluchter Geschäftsmann. Mehr nicht.“
Es traf ihn.
Der Mann mit der hohen Stirn, der an diesem Tag nicht einmal wirklich einen Anzug, sondern nur ein Jackett nebst legerer Alltagskleidung trug, begann damit, seine auf meinem Schreibtisch verteilten Sachen einzusammeln.
„Ja, dann geh halt. Ich habe sowas von die Nase voll von Dir, Frank. Ich habe den Schlusssatz schon geschrieben, und was das heißt, das wirst Du auch in tausend Jahren nicht begreifen. Ich habe noch nie so früh schon gewusst, wo die Sache endet“, sagte ich.
Frank sagte zuerst nichts. Er war eigentlich viel zu diplomatisch und kannte mich zu gut, um sich in dieser Situation auf Diskussionen einzulassen, und genau das liebte ich an ihm. Aber an diesem Tag hatte ich schon zuvor den Bogen mehr als einmal überspannt.
„Du weißt überhaupt nicht, wie es endet“, sagte er. „Dir sind ein paar zufällige, kontextlose Zeilen eingefallen, die Du für das Ende einer Geschichte hältst, und weil Du gestern Nacht betrunken diese Geräusch-Teppich-Nummer aus Deinem verkorksten Hirn rausgeholt hast, glaubst Du jetzt, die beiden Textbausteine hätten irgendeine Verbindung metaphysischer Art, die nur Du allein erkennen kannst. Also wirst Du 220 Seiten wirren Mist dazwischen tippen und es für Bestimmung halten. Und dann haben wir Deinen dritten Flop in einer Reihe und Du kannst einpacken. Du kannst wieder als Gärtner arbeiten, wenn Du das hier weiterschreibst und wenn wir es drucken lassen. So sieht leider die Realität aus.“
„Ich träume heimlich schon die ganze Zeit davon, wieder als Gärtner zu arbeiten“, sagte ich.
“beiden Uhren springen die verblichenen Gewaendern / wie junge Rehe”
“Und ihr Schicksal schlug doch / Die glutverbissnen Lippen;”