Klassentreffen: Twitterhude Zwanzigzehn.

Ich hatte gestern beim Twittern einige merkwürdige Visionen. Mir war, als stünde meine halbe Timeline in Person vor mir.

Und die Visionen gingen so:

Mein grandioser Plan, gänzlich unerkannt zu bleiben: Zerstört durch das Duo Infernale aus @Epitymbidia und @Herr Twiggs, die mir zwei ganze Kilometer vom Verantstaltungsort entfernt mit der unvollendeten Frage: „Entschuldigen Sie, wissen sie, wo das stilwerk, ach, der Herr Baumer, der will doch auch dort hin“ jegliche Illusionen nahmen, dass mein Profilphoto und ich einander nicht so einfach zuordenbar wären und sogar meinen Zweitaccount benennen konnten.

Meine undurchdachte Idee, eine Halb-#Offlinerin und gute Freundin mit in die Veranstaltung zu bringen: Zerschmettert in nur 15 Minuten mit den Twitterianern und ihren permanenten Inside-Jokes ([irgendwas über @haekelschwein] – „Du, ich glaub, geh dann mal.“ – „Würde ich ihr folgen, wäre aber bald damit Schluss!“).

Meine schlimme Befürchtung, selbst niemanden erkennen zu können: Makulatur, nachdem der Bursche mit den zweitgefärbten Haaren (@moeffju) schon am Eingang ganz selbstverständlich vor mir stand.

Mein pathetischer Hilferuf nach Aufmerksamkeit über die Twitter-Wall („Sitze allein auf der Heizung und twittere. Passend.“): Innerhalb von Millisekunden („So, jetzt bist Du nicht mehr allein“) reallifeartig beantwortet von den mich plötzlich umringenden @Weiszklee und @Mlle_Amandier.

Mein dringender Vorsatz, nicht vor Ehrfurcht oder Erstaunen über die wahren Persönlichkeiten der vielen virtuellen Menschen zu erstarren: Einfach kaputt geschlagen durch @cemb, dem im Anzug erschienenen @germanpsycho und @diktator.

Mein Geistesblitz, irgendwann einfach wieder zu verschwinden: Torpediert von @elbpoet und @silenttiffy, in deren Taxi ich unter widrigen Umständen geriet, um in Saschas Wohnung bei Rotwein bedeutenden Fragen wie der Motivation, die Menschen zum Schreiben bringt, ausführlich nachzugehen.

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Ein langer Abend unter Gleichgesinnten. Es hatten sich sogar ein paar Spamfollower unter die Anwesenden gemischt. Und ich hab überall noch Analogtweets (vulgo: Zettelgedichte) ausgestreut (die zum Teil gefunden und in einem Fall auch getwitpict wurden [edit: In zwei]) und mein Bild in echt gesehen, Twitterhimmel.

Tausend Favs und Dank @frauenfuss.


Xmascontent (II)

Rage Against The Casting-Machine und Killing In The Name Of Christmas

Die derzeitige Nummer Eins in Great Britain? Ein besinnlicher Schmuse-Pop-Song eines schwiegermuttergesichtigen Castingshowgewinners, der ursprünglich von einem anderen Pop-Sternchen intoniert wurde. So zumindest hätte es kommen sollen. Stattdessen: Pfeif auf Besinnlichkeit und Moderne, pfeif auf Weichspülcontent: Bei dem Song, der in der Weihnachstwoche in England und Co. glatt auf Platz Eins der Singlecharts eingestiegen ist, handelt es sich tatsächlich um die inzwischen über siebzehn Jahre alte, erste Single Killing In The Name’ der weiterhin auf Eis liegenden Rage Against The Machine.

Wie konnte das geschehen? Zwei Medien spielen in diesem kleinen Weihnachtsmärchen eine Rolle: Facebook und das Fernsehen. Im Fernsehen läuft zu dieser Zeit des Jahres in UK traditionell “The X Factor” mit Simon Cowell (in etwa das britische Pendant zu Dieter Bohlen), eine seichte wie populäre Casting-Sendung, deren Sieger (in diesem Jahr ein nichtssagende Schnulzen-Junge namens Joe McElderry, der in seiner Single die unsägliche Miley Cyrus covert, was an sich schon einen zynischen Kommentar wert wäre) normalerweise zu Weihnachten die Charts dominiert.

Das wollte sich ein Mensch wie Du und ich namens Jon Morter nicht mehr länger mit angucken und gründete kurzerhand eine (inzwischen leider wieder gelöschte) Facebook-Gruppe: “Rage Against The Machine For Christmas No.1″. Einziges Ziel: Per massenhafter Musikdownloads eben jenen anderen Song zu Weihnachten 2009 auf Platz Eins schicken. In kürzestester Zeit war klar: Das würde klappen, nicht etwa wegen der lustigen Nebeneffekte, dass Prominente wie Rage Against The Machine selbst und sogar Paul McCartney die Aktion richtig gelungen fanden, nachdem sie die notwendige Mainstreamaufmerksamkeitsschwelle überschritten hatte, sondern weil die Gruppe ein Zeitgefühl traf und es damit locker auch ohne derartige Feedbackeffekte zu eben jener Schwelle brachte: Insgesamt 950.000 Menschen schlossen sich zuletzt der Gruppe an, kauften 500.000 Mal den Song, der sich damit mit einem satten Vorsprung von 50.000 Käufen auf dem ersten Platz festbiss. Die Aktion beweist sehr deutlich die inzwischen weit in die Realität hineinreichende Macht der Social Networks ebenso wie die Intelligenz jener organisierten Massen in kulturellem Sinne. Dass es ausgerechnet Rage Against The Machine sind, hat sicher nicht nur mit der Vorliebe des Gruppenstarters für die Band zu tun: Es ist auch ein sinniges Statement nicht nur für die Langlebigkeit guter Musik, sondern auch für den Widerstand gegen “das System”.

Die kleine Geschichte wird die klassischen Medien natürlich kein Stück weit ändern. Aber sie ist eine eindrucksvolle Demonstration dessen, wie sehr die Macht derjenigen schrumpft, die den Konsumenten irgendwelche Inhalte einfach vorsetzen bzw. wie weit der Widerstand dagegen mit der zunehmenden Vernetzung der Menschen im Social Web inzwischen gewachsen ist. Und er wird größer, so viel ist sicher.


Projekt: Adventscollagender

Vierundzwanzig kleinesüßeschnelle 5-Minuten-Seltsamkeiten aus der dadaistischen Collagenfabrik für jeden Tag bis Weihnachten möchten im Twitpicland abgeholt werden. Mmmjam.


In eigener Sache: Twitter-Ausstellung, Buchprojekt und Kunstmaschine

Drei redundante News aus meiner kleinen Welt, nur der Vollständigkeit, nicht des Spams wegen:

Michaela von Aichberger malt ihre Twitter-Follower, eine Aktion, die inzwischen beträchtliches Feedback auch in den großen Print-Medien bekommen hat. Ich darf mich glücklich schätzen, einer derjenigen zu sein, die im Laufe des Projekts gemalt wurden. Das Bild findet sich hier. Engelsflügel, Blut und meine Worte. Ich danke auf diesem Wege erneut. Mehrfach. Niederkniend.

Negoist New Art
heißt die Gruppe, „Imagine the Imagination. New Visions of Surrealism“ das kommende Buch, das sich mit 100 Werken neuer digitaler wie traditioneller Kunst aus dem ästhetischen Umfeld des Surrealismus beschäftigt. Unter den vertretenen Künstlern befindet sich auch ein gewisser Sebastian Baumer.

Reinstallation des Kunstmaschine-Paradigmas (ein sich selbsterfüllendes Mantra): Ich werde ab dem heutigen Tag jeden Tag einen Text, ein Gedicht oder eine Rezension schreiben, ein Lichtbild photographieren, eine Collage erstellen oder ein Bild malen. Ich werde keinen einzigen Tag mehr den kleinen Bruder des Todes besuchen ohne diese Aufgabe erledigt zu haben. Solange ich lebe. Ich werde nicht mehr sinnlos Geld aus dem Fenster werfen, um Gegenstände zu erwerben, in die ich allein durch den Kauf bereits neue nostalgische Emotionen legen kann. Ich werde keine Kassenzettel und keine Rechnungen aus Restaurants mehr aufbewahren, denn sie dienen nur dem selben Effekt. Ich werde nicht mehr durch die Stadt laufen und mich verzweifelt an allen neuen und alten Menschen festhalten, die ich finden kann. Ich werde jedes Erlebnis und jede Begegnung als ein Geschenk betrachten. Ich werde in meiner Kunst ruhen.


Rituale & Routinen.

Laut mir exklusiv vorliegenden Informationen hat der Amokläufer von Winnenden mehrere Bücher gelesen, teilweise sogar mitten im Unterricht unter den Augen der Lehrer. Mehrere CSU-Politiker zeigten sich schockiert: “Wann verbietet endlich jemand diesen gewaltverherrlichenden Dreck?”, fragte Parteipräsidialvize Josef Stumpfhuber, sichtlich betroffen von diesen neuen Erkenntnissen. Polizeipsychologe  und Medienexperte Peter Kleinschnurz ist sich derweilen sicher: “Dass der Vater des Jungen mehr als zehn Waffen und mehrere tausend Schuss Munition im Elternhaus lagerte, hängt meines Erachtens kaum mit den Vorkommnissen zusammen.”

Die Medien bleiben inzwischen extrem dicht dran und zwitschern live vom Ort des  Geschehens. Letzte Twitter-Meldung eines besonders investigativen Reporters einer großen deutschen Tageszeitung: “Esse gerade einen Döner extra scharf, danach Pressekonferenz.” Vier weitere Blätter haben die sich inzwischen als Falschmeldung  entpuppte Nachricht (in Wahrheit war der Typ in einer Fast-Food-Kette) derweilen schon abgeschrieben und ein ein bisschen was dazugedichtet. Das bunte Treiben geht weiter.