Bericht über einen Bericht.

Ich bin ganz allein auf diesem Festival und fühle mich nicht gut, weil ich allein hier bin. Man geht nicht allein auf Festivals, das wirkt verdächtig. Ich muss mehr wie ein Journalist denken, denke ich, denn ich bin ja als einer hier. Ich habe ein Schildchen um den Hals baumeln, auf dem mein Name und darunter das Wort „Presse“ steht, auch wenn ich mich jedes Mal wie ein Betrüger fühle, wenn ich es bei irgendwem vorzeigen muss. Das hat aber gar nichts mit der konkreten Situation zu tun, ich war schon oft mit so einem Schildchen auf Festivals, ich fühle mich einfach ziemlich häufig wie ein Betrüger, egal was ich tue. Als Journalist kann man jedenfalls allein auf ein Festival gehen, das ist nicht nur völlig ok, sondern sogar die Aufgabe, ich bin nur ein neutraler Beobachter, kein Teil des Geschehens. Ich muss mich dringend meiner Aufgabe des neutralen Beobachtens zuwenden, es ist schon zu viel Zeit vergangen, in der ich das nicht getan habe.

In meiner Hand ist eine Bierflasche. Es ist schon mindestens die vierte Bierflasche, die in den letzten paar Stunden in dieser Hand war und es ist erst früher Nachmittag. Das ist nicht gut, denke ich, da stolpere ich während des Rumflanierens und Denkens plötzlich über etwas (vermutlich mich selbst) und falle einen kleinen Abhang hinunter, der mitten auf dem Festivalgelände ist, die Bierflasche löst sich dabei aus meinem Griff (die Hand und der Arm werden zum wilden Herumrudern im Nichts benötigt, was freilich keinerlei erkennbare Wirkung hat, weswegen die Frage im Raum bzw. auf dem Festival stehen bleibt, warum mein Körper unwillkürlich diese Bewegungen ausführt), fliegt durch die Luft und schlägt auf meinem Handgelenk wieder auf, als ich am Fuß des Hügels schon ein paar kleinere Zeiteinheiten als Sekunden später im Gras zum Liegen gekommen bin. Dann läuft sie neben mir aus und gluckert dabei, als würde sie über mich lachen. Das tut kurz alles höllisch weh (der Einschlag der Flasche auf dem Handgelenk mehr als der Sturz), ich muss aber ebenfalls darüber lachen. Welcher Idiot baut einen Hügel auf ein solches Gelände? Das wird alles immer schlimmer, denke ich. Journalisten fallen nicht betrunken irgendwo runter und lachen über ihre eigene Dummheit und ich wollte doch wenigstens einmal ein guter Journalist sein.

Ein Mädchen kommt angelaufen, beugt sich über mich und fragt, ob ich mich verletzt hätte. Ich würde ihr echt gerne sagen, dass ich schwerverletzt bin und von ihr versorgt werden muss, dass sie mir das Leben gerettet hat und wir jetzt durch das Schicksal verbunden sind oder irgendetwas in der Art, denn sie ist wirklich hübsch und trägt Ohrringe, die versilberte Spielwürfel sind, aber das wäre alles gelogen und Journalisten lügen nicht, höchstens, um an Informationen zu kommen und sie wirkt nicht so, als ob sie irgendwelche Informationen hätte, vielleicht maximal darüber, wo man hier was zu rauchen bekommt, eine Information, die mich schon interessiert, die aber für einen Journalisten nicht relevant sein darf. Ich sage: „Nein, alles ok, aber Danke“ und lächle sie an. Sie lächelt zurück, sagt, dass der Sturz echt witzig aussah und ist dann auch schon wieder verschwunden. Als sie wieder verschwunden ist, ärgere ich mich kurz, sie nicht doch in ein Gespräch verwickelt zu haben. Vielleicht hätte es ja geholfen, mich als Pressevertreter erkennen zu geben. Grober Berichterstattungsfehler.

Ich greife nach der Bierflasche neben mir und trinke den letzten Schluck aus (Bierflaschen laufen nie ganz aus, wenn sie umkippen, das hat mit der Beschaffenheit von Flaschen mit sich nach oben verengenden Hälsen in horizontaler Lage an sich zu tun, die Möglichkeiten für so eine Flasche, ganz auszulaufen, sind: dass sie zerbricht, auf einem Abhang mit Öffnung nach unten landet oder aber direkt auf die Öffnung fällt und auf ihr stehen bleibt, letzteres ist ein äußerst unwahrscheinlicher Fall, den ich aber schonmal aus erster Hand beobachtet [„aus erster Hand beobachtet“ ist eine Formulierung, die mich sehr irritiert, ich habe mich aber genau aus dem Grunde dazu entschieden, sie in diesem Text zu lassen] habe).

Mein Artikel über das Festival, der in einer schäbigen, kleinen Lokalzeitung erscheint, die trotzdem deutlich mehr Leser hat, als jedes Blog, den ich in den letzten drei Jahren betrieben habe, heimst später Lob von allen Seiten ein, zu Recht, ich habe schließlich knallhart dafür recherchiert, mir sogar einige der eher mittelmäßigen* (*schlechten) Bands angeguckt und später doch noch  andere Informanten nach diversen Dingen befragt.


Nanoskop (XXXV)

Blutpolka und Knochentango. / Endlich jemanden kennengelernt, der auch zur Einsiedelei neigt. Sie will mich nur leider fast nie treffen. / Ich wusste genau, dass ich gleich denken würde „Ich wünschte, ihr wärt weniger vorhersehbar“. Ich wünschte, ich wäre weniger vorhersehbar. / OSX Oachkatzlschwoaf. / Kosename „Kollaborateurin“. / Ein Anti-Märchen, quasi. Brutal wahr, dafür hier und jetzt. / Nur sprachlich paradoxer Geheimplan „Mit Dir abstürzen, nur um bei Dir zu landen“. / Pädagogik auf Tornister studieren. / Pro-Tipp: Wer für Favs und Likes schreibt, der bekommt nur selten mehr als Favs und Likes. / Statussymbol „Selbstironie“. / Die allesentscheidende Frage bei Intelligenztests in Zeitschriften ist die, ob man ernsthaft den Test ausfüllt. / „Wir kennen uns von den Blütenblättern des Gänseblümchens.“/ Die Gemeinsamkeit von ganz alten Cartoons und Schmidtchen Schleicher: Elastische Beine mit federnden Knien. / Unbesetzter Metal-Bandname „Maehdreshor“.


Nanoskop (XXXIV)

Windschiefe Kopfgeburten. / Kommentare, in denen irgendwelches Gezeter über angebliche „Zensur“ vorkommt, lösche ich meistens direkt. / „Niemand liebt mich.“ – „Dein Hauptproblem ist Deine Einstellung.“ – „Dabei hat mich eigentlich sowieso niemand verdient.“ – „Viel besser.“ / Jugenderinnerungen (an den Innenseiten der Unterarme). / Ramba Zamba : Remmidemmi / „Du umarmst mich ein bisschen zu intensiv für eine normale Begrüßung.“ (Oft gedachte Sätze, die nur selten gesagt werden) / Reichtum: Die sorgfältige Auswahl, nicht das Anhäufen. / Will ein medizinisches Fachbuch für Kinder schreiben. Provisorischer Titel: „Flimmertier & Nasenhärchen“. / Jeder hat heute eine Meinung zu allem. Es gibt so scheißviele Meinungen, dass Meinungen völlig egal geworden sind. / Die Dämonen der Anderen. / Die Leute aus der Zukunft machen sich so oder so über uns lustig. / „Wann gehst Du endlich kurz Zigaretten holen?“


Paranoia im System.

Das erste Mal sehe ich den Infozettel zur Mandelentfernung, als man mir nach der Eingangsuntersuchung verschiedene Patientenbögen zur Ausfüllung reicht. Ich kreuze fast überall das Feld ‘n’ an. Ich bin nicht krank, wurde nie operiert, habe keine Allergien, keine Suchtprobleme (Lesen und Schreiben werden zum Glück nicht abgefragt), war quasi noch nie beim Arzt, keine Schäden, Baujahr bekannt und insgesamt durchaus gebrauchstüchtig. Der Zettel klemmt unschuldig unter dem ganzen anderen Gedöns auf dem braunen Plastikklemmbrettchen: Ein harmloser, im Vergleich zu den nüchternen Bögen fast farbenfroher A5-Flyer, dem man sogar eine Art Design spendiert hat. „Was soll ich denn damit?“, frage ich die Frau am Empfang in einem etwas patzigen Tonfall, „ich habe eine Entzündung im Hals, aber nichts mit den Mandeln“. „Ja, dann geben Sie den halt einfach wieder her“, sagt sie. Im Laufe dieses Tages bekomme ich den Zettel noch zwei weitere Male untergejubelt, immer zwischen andere Formulare gemischt, die tatsächlich etwas mit meinem Fall zu tun haben. Ich messe dem keine Bedeutung zu. Am Abend auf der Station nehme ich die Speisekarte in die Hand, die auf dem Beistelltisch neben meinem Bett liegt. Darunter liegt: Der Mandelentfernungs-Flyer, der weiterhin den „Routineeingriff“ geradezu als Traumerfahrung mit endlos-vielen Vorteilen präsentiert, die jeder Menschen in seinem Leben gemacht haben sollte.

Ich bin irritiert und mir unsicher darüber, ob ich langsam paranoid werde von den vielen, inzwischen nicht mehr in allen Details für mich nachvollziehbaren Infusionsflaschen, die im 3-Stunden- und Drittel- bis Halblitertakt über den „Zugang“ in meinem Arm den ganzen Tag in meinen Blutkreislauf gepumpt werden. Schmerzmittel, Cortison, Antibiotika, Kontrastmittel, immer rein in guten, alten Körper, der braucht das und bitte keine doofen Fragen, das gehört halt dazu zu der ganzen Krankenhausnummer. Mich interessieren hier gerade die endlosen Widersprüche: Das Kontrastmittel („Kontrastmittel“ ist längst zu meiner Wortschatzneuaufnahme des Tages avanciert, für die immer schwammiger werdenden Meinungswelten öffentlicher Diskurse bräuchte im Grunde man auch so eine Wunderwaffe), das ich vor dem CT einnehmen muss, damit die Weichteile in meinem Rachen sichtbarer für die Strahlen werden, ist wohl irgendeine hochgiftige Scheisse (zumindest klingt der Nebenwirkungsaufklärungswisch so und es ruft bei der Zufuhr einen relativ heftigen körperlichen Effekt hervor: zuerst fühlt sich Stelle sehr heiß an, an der die Infusion einläuft, selbige Empfindung breitet sich dann in den ganzen Körper aus, dabei wird einem schlecht und schwindelig; das Kontrastmittel wird erst mit Ansage eingespritzt, wenn man schon in der Röhre ist und auf einer Bahre liegt, die Ansage erfolgt dabei aus dem Off [„Das Kontrastmittel folgt jetzt“], denn die Pflegerin steuert die ganze Konstruktion vom Nebenraum aus, genau so muss es sein, wenn man in den USA mit einer Giftspritze aus dem Leben gehen muss, denke ich), man soll danach jedenfalls möglichst viel Trinken, um es wieder aus dem Stoffwechsel zu spülen. Gleichzeitig soll ich aber laut vorheriger Befehle auf keinen Fall etwas trinken, da ich möglicherweise noch einmal operiert werden muss (nichts essen und trinken heißt im hiesigen Jargon „nüchtern sein“, eine zu offensichtliche Vorlage für dumme Witze, die ich mittels Twitter gnadenlos ausnutze, auch wenn meine Selbstachtung als Schreiber heftig Widerspruch einlegt). Als ich eine der Schwestern mit dem mir erst viel später in vollem Ausmaße klar werdenden Widerspruch (mein Gehirn funktioniert hier drin nicht richtig) in den erhaltenen Anweisungen konfrontiere, ernte ich nur ein leeres Gesicht und die Wiederholung des zuletzt Gesagten, d.h. der Aussage, die von ihrem Chef kommt. Was das Kontrastmittel für Nebenwirkungen haben kann (ausfallende Augäpfel und plötzlicher Riesenwuchs der Nasenflügel sind noch die harmloseren Dinge, die ich gelesen zu haben glaube) und dass mir seit der piepsenden Drehröhre kotzübel ist, ist angesichts der direkten Anweisung des Arztes ein eher abstrakter und irrelevanter Nebenschauplatz für die zuständige Nachtschicht. Gegen drei Uhr wird mir das allerdings völlig piepegal und ich hänge mich direkt mit meinem natürlichen „Zugang“ (Mund) an den Wasserhahn und lasse mich mit H2O volllaufen, woraufhin sich meine Übelkeit deutlich spürbar legt. Eine Frau erzählt mir am nächsten Morgen auf dem Hof (es gibt keinen Hof, das ist eigentlich die Durchfahrt zwischen den beiden Hauptgebäuden, Menschen, die nicht rauchen dürfen, rauchen hier heimlich in den nichteinsehbaren Ecken), dass sie hier von vier Ärzten in vier Wochen vier unterschiedliche Diagnosen bekommen hat. Sie hat irgendetwas sehr Schlimmes, weiß aber nicht genau, was es ist und sagt, dass sie Angst hat, dass sie hier nicht wieder rausgehen wird. Wir fügen uns bei Facebook als Freunde hinzu, wissen aber wohl beide, dass das eher eine leere Höflichkeitsgeste ist, dass es eher eine von diesen Verbindungen wird, bei denen man sich zweimal pro Jahr kurz schreibt (die Geburtstage). Vielleicht mache ich aber auch absichtlich das Gegenteil von dem, was wir beide erwarten, gehe sie in den nächsten Tagen einfach mal besuchen, sobald ich selbst wieder richtig auf den Beinen bin und bringe ihr eine Zigarette vorbei. Aber nur eine, ich assistiere in meiner Freizeit ja nicht bei Selbstmorden.

Da ich in einem abgesehen von meiner Anwesenheit noch leeren Vierbettzimmer untergebracht bin, gucke ich sofort nach der Entdeckung unter die Speisekarten auf den Tischchen neben den anderen drei Betten: Keine Mandelinfos. Ich hatte es befürchtet, auch wenn das alles wie ein billiger Thriller wirkt und ich immer noch nicht glauben mag, dass man mir hier eine unsinnige Zusatzoperation auf derart plumpe Weise schmackhaft machen will. Ich schiebe meine paranoiden Ängste darüber, wie man mich in der Nacht aus dem Zimmer abholen, bis zur Paralyse durchinfusionieren und bizarre Operationen an mit durchführen wird, auf die Höllenschmerzen der letzten Tage, zu viele schlechte Filme und zu wenig Erfahrung mit Krankenhäusern und erlebe die weiter oben und weiter unten geschilderte Scheißnacht. Als am nächsten Vormittag bei der Visite der Stationsarzt dann allerdings tatsächlich (mit einer hübsch vorgetragenen „Oh, one more thing…“-Performance) damit anfängt, ob ich schon mal daran gedacht hätte, mir (rein vorsorglich natürlich) die Mandeln rausnehmen zu lassen und dass man das ja relativ unkompliziert machen könnte, eilt mir im Gefolge einer Gänsehaut irgendetwas den Rücken rauf. Es ist eine Mischung aus „Die wollen Dich hier nach und nach ausschlachten und Deine Organe noch privateren Privatpatienten einpflanzen“ vs „Was passiert eigentlich hier mit älteren Leuten, die nicht mehr ganz so fit im Kopf sind und das alles nicht überblicken können?“ vs „Scheiße, meine Scheißparanoia hatte Recht“-Gefühl. Ich verlasse am Nachmittag die Klinik auf eigenen Wunsch („gegen ärztlichen Rat“) und es fühlt sich ein bisschen an, als wäre man als geistig Gesunder aus einem Irrenhaus entkommen. Vier Stunden nach der letzten Infusion machen meine wiederkehrenden Sinne langsam wieder soetwas wie einen normalen Menschen aus mir. Ich hoffe, dass mein vorschneller Abschied keine Überreaktion war, weiß aber jetzt zumindest, dass ich im Zweifel in freier Wildbahn sterben und nicht in der dortigen Krankenhauskapelle im dritten Stock von Trakt A hinter diesen schweren Holztüren plötzlich in einem Sarg nicht mehr aufwachen werde, so zumindest die Rechtfertigung meiner Abreise gegenüber mir selbst, als ich in den Bus steige.

Ich war seit meiner Geburt nicht mehr in einem Krankenhaus (abgesehen von ein paar Stunden „zur Beobachtung“ vor zehn Jahren nach einem fremdverschuldeten Verkehrsunfall, in dem Fall ergriff ich mitten in der Nacht und ohne Ansage an irgendwen in einem über mein Krankenbetttelefon beorderten Taxi die Flucht, weil ich die Infusionsnadel im Arm nicht mehr ertragen konnte; Infusionsnadeln und Schläuche im Körper sind bis heute immer noch das Schlimmste an der ganzen Sache, wie ich wieder gemerkt habe – abgesehen von dem mechanisch-funktionalen Scheißwort „Zugang“ dafür, das ist genau so schlimm wie die Sache an sich), aber ich hätte nie gedacht, dass es mich auf eine derart verstörende Weise misstrauisch gegenüber Menschen machen könnte. Von „kurz mal eine eitrige Stelle aus der Hölle im Hals anschnippeln, damit die weggeht“ (‘OP’), landet man verdammt schnell im „längerer Aufenthalt mit fünf Infusionen täglich, Kernspins und weiteres Sägen im Körper“-Land, wenn man nicht höllisch aufpasst (maßlos unter-, dann übertriebene Darstellung, die in die Cartoonhaftigkeit des ganzen Textes passen soll). Am Tag nach der Operation, mit einer leichten Bonuserkältung im Gepäck (ich habe mit dem Kopf in Richtung Fenster geschlafen und dummerweise irgendwann nach der Wasserepisode in Halbtrance das Fenster gekippt) geht es mir jedenfalls auf diverse Weisen so schlecht, dass der Gedanke, vielleicht doch noch ein paar Tage zu bleiben und brav weiter an mir rumdoktoren zu lassen, plötzlich eklatant attraktiv erscheint, aus Freiheitsperspektive im Nachhinein freilich ganz eindeutig Stockholm- bzw. Zauberberg-Syndrom. Als Kassenpatient ist das Erlebniskabinett Krankenhaus vermutlich komplett andersherum und sogar noch sehr viel gruseliger. Ich stelle mir vor, wie man als Angehöriger dieser unerwünschten Kaste direkt nach der Notoperation mitsamt dem Bett auf die Straße gerollt, durch den Hebemechanismus in die Vertikale und dann mit dem Arschtritt eines Mitarbeiters des Sicherheitsdienstes vom Gelände befördert wird, der einem aus Mitleid am Tor noch eine rostige Nadel und ein speckig-zusammengerolltes Konvolut mit zwei kurz gehaltenen Lederfäden in die Hand drückt, „falls die Wunde doch wieder aufgeht“. An diesem Zweikassensystem ist jedenfalls in Summe so ziemlich alles faul.

Egal, zu welcher Gruppe ich demnächst gehören werde (mir steht ein Rückwechsel zu den weniger Privilegierten bevor, was aber eine ganz andere Geschichte ist): Ich werde ab sofort alles daran setzen, die nächsten 100 Jahre nicht mehr ernsthaft krank zu werden, das scheint am Ende dann doch die einzig effektive Waffe gegen Krankenhauskomplikationen aller Art. Das Einzige, was diesen Zukunftsplänen noch im Wege steht, ist freilich (wie immer) die Gegenwart.


Nanoskop (XXXIII)

Verblichenes Haar, junge Augen, neuntes Leben, mindestens. / Binde kleine Ätherfeedbackschleifchen um Deine Gedanken. / Gut getarnte Umwege. / „Und was hast Du diesen Sommer gemacht?“ – „Mir Sorgen.“ / Alle Fünfe gerade sein lassen: mein sechster Sinn (bin siebengescheit, also Achtung!). / Niemand hat die Absicht, hier einen roten Faden reinzubringen. / Scherbengericht: Linsensuppe (kräftig umrühren!) / Aus nostalgischen Gründen mit jemandem zu schlafen gibt negative Karma-Punkte. Bitte prägt euch das ein (außer ihr hattet mal was mit mir). / Kleine Mitbringsel aus dem Wortschatzland: Kaputnik, Gummitwist und Kokolores, alles ganz kommod. / „Ich weiß, dass Du es nett meinst, aber es klingt wie eine Drohung.“ / Bin ein Oxymoron (und das Gegenteil) / „Lügst Du mir das Graue von Himmel herunter?“ – „Häh? Die Sonne scheint doch schon den ganzen Tag.“ – „Wirklich?!“ – „Nein.“ / Feinsinn und Ehrfurcht.


Litanei.

Wenn Du Dich versteckst, bei Tag. Wenn Du niemanden hast, zu dem Du gehen kannst, in der Nacht. Wenn Du immer auf der Flucht zu Dir selbst bist, es Dich aber trotzdem von innen her zu den Menschen zieht, weil es in Deiner Natur liegt. Wenn Du Dich schämst für Dich, wenn Dich nie jemand gelehrt hat, stolz auf Dich zu sein, sondern nur, dass Du nicht gut genug bist. Wenn Du jeden Tag akribisch daran arbeitest, gut genug zu sein. Wenn Du Dir Listen machst, Listen mit Dingen, die Du tun musst, um gut genug zu sein. Wenn Du jeden Tag zu einer bestimmten Uhrzeit aufstehst und damit anfängst, die Listen abzuarbeiten, bis die Listen zu einem Versprechen von einer anderen Zukunft werden. Wenn Du das Versprechen schon lange nicht mehr glaubst. Wenn Du kein Fleisch isst, wenn Du jeden Tag Sport machst, wenn Du Dich zu sozialer Interaktion zwingst, obwohl Du weißt, wie es oft endet, wenn Du zwanghaft versuchst, Nikotin und Alkohol zu vermeiden, obwohl Du sie am Abend so dringend bräuchtest, um in den Schlaf zu sinken, der nicht von selbst zu Dir kommen mag, nicht mal er legt sich noch gerne zu Dir ins Bett. Wenn Du schreibst, aber nicht über Dich, sondern von Dir fort, weil Du Dir selbst gar nicht wichtig genug bist. Wenn Du weitergehst, obwohl Du im Weitergehen Dinge verpasst. Wenn Du merkst, dass Du Deinen eigenen Ansprüchen nie genügen kannst, weil sie mit den Anstrengungen wachsen. Wenn Dir die Menschen egal geworden sind, weil Du sie so selten als Freunde agieren sehen hast. Wenn Du Dich darüber in ekelhaftem Selbstmitleid suhlst. Wenn Dein Kopf nicht weiß, wohin er die Gedanken packen soll und nie auch nur eine Minute die Fresse halten kann. Wenn Du schreiben musst, um diese Dinge irgendwo einzusperren, an einem Ort, an dem Du sie in Ruhe betrachten kannst, als hätten sie mit Dir überhaupt nichts zu tun. Wenn Du nie stehenbleibst, weil Du noch nicht angekommen bist, aber nie ankommst, weil Du nicht stehenbleibst.


Nanoskop (XXXII)

Selbstbild als implodierender Fixstern, um den in instabiler Umlaufbahn tausende farblose Weltraumelephanten kreisen. / Verlustfreies Sprechen. / Grübelt man darüber, warum sich jemand wie ein Arschloch benimmt, dann vergisst man oft die naheliegendste Erklärung: Weil er eines ist. / Post-Röckchen. / To Do: Sollbruchstelle neu verorten. / „Da rollen sich mir die Zehennägel bis zu den Ohren hoch!“ / Ich sehe Dich, was Du nicht siehst. / „Bloß nicht an den Erinnerungen herumpopeln, sonst entzünden die sich!“ / Ich will nach Hause. Problem: Ich bin schon zu Hause. / Oh, ein Licht! Autsch, das brennt wie Feuer! Oh, ein Licht! Autsch, das brennt wie Feuer! Oh, ein Licht… [vereinfachte Autobiographie] / Sauerteig und Lebensförmchen. / Anfang, der: Die beginnende Erosion von scharfkantigen Ideen in Richtung feinpoliertes Tafelsilber zum Auftischen für Jedermann. / „Ach ja?! Soweit ich weiß, bestehst Du nur aus unsichtbaren kleinen Kügelchen, die umeinander kreisen!“ / Fremdscham-Button, das wärs. / Selbstbildnis als überspannter Flitzebogen.


Vortext.

Vergiss die Zuweisungen, wirf die tote Moral in transparenten Plastiksäcken über Bord und glotze ihr dabei direkt in die Augen. Wickle die Realität ab. Nimm Dir Zeit dafür, ein paar kubanische Zigarren auf Lunge zu rauchen und Dir selbst den Kopf abzubeißen. Amputiere ohne Betäubung Dein Innerstes und schleudere es angeekelt aus dem Fenster wie eine Kindsmörderin ihr Neugeborenes. Überspanne den Regenbogen, bis er bricht und wälze Dich konvulsorisch unter wilden Flüchen in den herausblutenden Farben. Verliere Dich und die Erinnerung an den Ort, an dem das passiert ist. Vergiss den Augenblick und frage ihn nicht nach Gefälligkeiten. Verhagle Dir die Vergangenheit, drisch Dir für jede Sentimentalität ein paar harte linke Haken in die rechte Gesichtshälfte. Ignoriere die Zukunft, sie existiert nur als Konzept und wird niemals sein. Verachte die Zeit. Bleibe hungrig und wachsam und verkralle Dich nur noch fester. Drehe das stumpfe Messer in der Wunde um. Sammle innerlich Hass und Liebe auf Vorrat und gib Jedem, dem Du begegnest, reichlich von der Sorte, die er verdient. Verschwende Dein Leben, Du hast doch sieben (in anderen Kulturen sogar neun). Schlage Dir jeden Morgen nach dem Zähneputzen (ohne Hände!) das Gesicht am Spiegel blutig, damit Du auf dem Boden bleibst. Hebe völlig ab und bleibe in der Luft hängen. Schlage dort Wurzeln. Stufe Dich selbst auf Triple A hoch und zahle beim Begleichen Deiner offenen Rechnungen freiwillig einiges drauf. Gewinne diesen Krieg gegen Dich selbst und mache dabei auf keinen Fall irgendwelche Gefangenen.


Der Rest von Hamburg: Hamm.

Ich wohne gerne in Hamm. Der Stadtteil ist ein bisschen rau, aber nicht auf eine Weise heruntergekommen, wie man sich einen eher unpopulären Stadtteil in einer deutschen Großstadt vorstellt, ganz im Gegenteil. Hamm ist ehrlich. Nachts auf der Straße begegnet man eventuell einer verwirrten alten Dame mit Rollator, die kurzzeitig den Weg nach Hause vergessen hat oder einem Familienvater, der nach einem Streit mit seiner Frau den Hund noch mal ausführt, um sich Luft zu machen, bevor er wieder nach Hause geht, um sich wie selbstverständlich wieder mit ihr zu versöhnen. In meiner Wohngegend brauche ich keine Clubs voll mit Hipstern und elektronischer Musik, keine alternativen Wohnprojekte, in die sich sympathische Gestalten zurückgezogen haben, die beschlossen haben, ihr Gehirn fortan zu nicht mehr als der Verbesserung der Kunst des Rollens eines Joints und fortwährend ergebnislosen Gesprächen über die Vorraussetzungen einer Neuausrichtung der Gesellschaft einzusetzen oder Bioläden, in denen man Teewurst kaufen kann, die sich von echter Teewurst nur insofern unterscheidet, dass sie keine ist, sondern ein in jeder Hinsicht täuschend echtes Sojaprodukt. Will ich das (und das will ich, wie ich gestehen muss, durchaus oft), dann bleibe ich einfach am Abend in der Schanze, in der unser Büro lokalisiert ist. Von meinem inzwischen drei Jahre währenden Aufenthaltsabo in Hamm bekomme ich dagegen regelmäßig Ruhe, ein paar leider nur schlecht sortierte, aber trotzdem nicht zu unterschätzende Supermärkte und Tankstellen in Katzensprungnähe, einen Park, in dem ich alle paar Tage zwei Runden joggen gehen kann, eine bezahlbare Wohnung und keine allzu merkwürdigen Erlebnisse und Begegnungen auf offener Straße an den Tagen, an denen ich mir nicht bewusst aussuche, merkwürdige Erlebnisse und Begegnungen haben zu wollen. Die paar wenigen Ausgehlokalitäten in Hamm (die finstere Namen wie „Bazille“ tragen und von außen selten gut einsehbar sind, Sie kennen diese Art von Kneipen, es sind die, die nur von den alten Knackern aufgesucht werden, die mit 50 immer noch Single sind, vorwiegend deswegen, weil sie seit dreißig Jahren in diesen Kneipen mit ihren ebenso gestrickten Kumpels den Freuden des Alkohols ungehemmt zusprechen) sollte man dringend vermeiden. Wenn man sich in der Ecke unbedingt auf ein bis sieben Gläschen Astra oder Holsten verabreden will, besucht man am Besten die per Pedes schnell erreichbare Fabrik in Hasselbrook und bekommt dort das nicht sonderlich stylishe, aber rustikal-solide Ambiente einer umgebauten, alten Bahnhofshalle inklusive im Sommer geöffnetem Biergarten geboten, wo es sich zuweilen ganz gut aushalten lässt. Vermutlich wohnen in Hamm sehr viele Rentner, zumindest deuten Unternehmen wie der Laden mit dem Schriftzug „Seniorenümzüge“ über dem Schaufenster des einzigen zugehörigen Raums, in dem nur ein karger Schreibtisch und ein Computer stehen, darauf hin. An einem durchschnittlichen Tag auf der Straße sieht man dagegen nur normal viele Rentner, das öffentliche Leben, sofern vorhanden, ist eher eine ganz gewöhnliche Mischung aus Menschen, die irgendwie bodenständiger wirken als die Leute im Rest Hamburgs. Vielleicht bleiben die Rentner ja lieber in ihren Wohnungen. Ich persönlich tippe (andererseits jetzt auch schon über ein Jahr) darauf, dass „Seniorenumzüge“ bald wieder geschlossen wird, denn es ist nie jemand in dem Laden. Er ist wie ein Gespensterladen, nicht einmal Mitarbeiter habe ich dort jemals beobachtet, obwohl ich jeden Tag mehrfach den gegenüberliegenden Bürgersteig entlanggehe. Sollte er wirklich geschlossen werden, so kann das eigentlich nur bedeuten, dass die Zahl der Senioren in Hamm überschätzt wurde und/oder dass sie hier einfach nicht wegziehen wollen. Letztes könnte ich verstehen. Ich wüsste auch nicht, wo in Hamburg ich stattdessen wohnen wollte.

Von den zwei gut erreichbaren U-Bahnhaltestellen, mit denen wir glücklicherweise gesegnet sind (Klammer Eins: gesegnet deswegen, weil es auch Gegenden in Hamburg gibt, die gar keine Bahn in Fußnähe haben, so dass man sich Platz im Omnibus mit nicht sonderlich sympathischen Zeitgenossen teilen muss, was aber vielleicht auch nur eine Äußerung meiner Omnibus-Phobie ist) (Klammer Zwei: sie liegen beide etwa in gleicher Entfernung von meiner Wohnung, Hammer Kirche ist ein paar Minuten schneller zu erreichen, von dort fährt man dann aber auch eine Station mehr in die Stadt, d.h. man passiert Burgstraße, die zweite Station, was den Zeitvorsprung wieder ausgleicht, woraus sich für mich die oft wiederkehrende Frage ergibt, an welcher Station ich aussteige – ich nehme zumeist Burgstraße, denn die Station ist schöner) ist man relativ schnell überall. In unter fünf Minuten, mit einer Ansage „Zurückbleiben bitte“ und in einer Haltstelle gleitet der Fahrgast unter der Stadt zum Verkehrsknotenpunkt Berliner Tor, von dort mittels verschiedener S- und U-Bahnlinien in etwas mehr als 15 Minuten fast überallhin in das Gewimmel der hektischeren Stadtteile Hamburgs. Es ist verkehrstechnisch komfortabler, in Hamm zu wohnen als etwa in der klassischen Wohngegend Barmbek, die nördlicher liegt. Zumindest bilde ich mir das ein und ich habe nicht vor, mir diese hübsche Illusion zu nehmen, indem ich nachgucke, wie schnell man von Barmbek im direkten Vergleich mit Hamm tatsächlich verschiedenen Orte der Stadt zu erreichen in der Lage ist.

Die dicke Frau hinter dem Tresen im Edeka Witt (unserem zentralsten, aber auch kleinsten Supermarkt), über den alle Arten von Backwaren wandern, trägt oft riesige goldene Ohrringe zu ihrem meist ehrlich wirkenden Servicelächeln, im Regal hinter ihr sind alle Brotsorten aufgereiht, die man sich vorstellen kann inklusive laktosefreiem Biobrot und „Angeschobenes“ (ich kann mir nicht vorstellen, was „Angeschobenes“ ist oder woher es diesen Namen hat [ja, natürlich könnte ich das einfach googlen, das ist allerdings an der Stelle nicht der Punkt, da dies ein literarischer Text ist und es echt scheiße wird, wenn die Leute in den Büchern der Zukunft einfach alles mit ihren Smartphones googlen, was sie nicht wissen], aber es sieht interessant aus). Ein Käsecrossaint kostet 1,20 €, ein Becher nur im Notfall zu empfehlender Kaffee nur wenig mehr. Der Pfandautomat für die Mehrwegflaschen, den es hier gleich in zweifacher Ausführung gibt, ist robust, aber ziemlich laut und hässlich. Er ist keines von diesen eitlen Modellen mit Gummiförderband, hübschem Frontend und womöglich noch einem „Spenden“-Button, die sich nach jeder zweiten Eingabe wichtig machen und irgendeine eine Störung vermelden müssen. Die Shell-Tankstelle nebenan schließt um 22 Uhr. Wenn man des Nachts also plötzlich auf die sowieso meist dumme Idee kommt, dass Alkohol jedweder Art jetzt doch noch eine ganz nette Sache wäre, dann muss man in aller Regel ein Stück laufen, es sei denn, es ist Wochenende, dann hat der Kiosk an der Burgstraße möglicherweise noch geöffnet, sofern die U-Bahnlinie noch nicht auf den weniger häufigen Rhythmus umgestellt hat, was etwa gegen 1:30 Uhr geschieht. Die Sache mit dem „ein Stück laufen“ sorgt vor allem im Winter und bei Regen (letzteres deutet im Kontext Hamburg darauf hin, dass „ziemlich oft“ auch eine angemessene Formulierung wäre) dafür, dass man meist doch lieber zu Hause bleibt und sich noch einen Tee ohne Rum macht. Der Verkäufer am Kiosk in der Burgstraße ist eine Art Autist, mindestens aber mit sehr seltsam verschalteten Synapsen ausgestattet. Er macht bei jedem Kunden irgendwelche bizarren Sachen, die nicht lustig-spontan, sondern eher zwanghaft auf mich wirken. Mal singt er Led Zeppelin und verdreht dabei Augen, so dass man nur noch das Weiße sieht, mal nennt er absichtlich einen falschen Preis und lacht dann über seinen vermeintlich gelungenen Witz. Die Modulation seiner Stimme klingt so, als hätte er erst vor ein paar Monaten sprechen gelernt. Die FAZ kriegt man nur an ein paar Stellen in Hamm, Mopo und Bild überall. Bei Jannys Eis kann man für zwei Euro zwei Kugeln Eis in der Waffel kaufen, optional mit Giga-Gummiüberzug. Ich vermute, dass ich der Einzige bin, der Giga-Gummiüberzug nimmt und das Zeug genau deswegen diesen ekelhaften Beigeschmack hat, als wäre in dem gelben Plastiktopf noch immer dieselbe Portion davon, die schon seit drei Jahren zum Einsatz kommt. Der Beigeschmack ist im Vergleich zu dem irgendetwas in mir auslösenden Hauptgeschmack aber dann doch nicht stark genug, um mich davon abzuhalten, jedesmal wieder zwei Kugeln Zitrone mit Giga-Gummiüberzug von dem Burschen zu ordern, den ich fälschlicherweise für Janny gehalten habe, bis ich herausfand, dass Jannys Eis eine Kette ist. In Hamm stehen die beiden hässlichsten Kirchen, die ich jemals gesehen habe. Sie wirken, als hätte man versucht, Hybriden aus 70er-Jahre-Hochhausästhetik und klassischen Kirchenformen zu erschaffen und sie tun den Augen und der Seele weh, wenn man sie anguckt. Der Park ist nicht außergewöhnlich, aber durchaus für Spaziergänge, Jogging und Grillen, ergo die gewöhnliche Nutzung eines Parks, verwendbar. Irgendwer lungert oder läuft eigentlich immer im Park herum, in einer an den Park angrenzenden Straße gibt es einmal die Woche einen kleinen Markt. Ich habe mal grünen Käse auf dem Wochenmarkt gekauft, der Käse war grün, weil irgendein Pesto mit enthalten war und er lag so lange ungegessen in meinem Kühlschrank, bis er zu schimmeln anfing, was leider fatal war, da man den Schimmel aufgrund der Farbgleichheit mit dem Käse mit nur oberflächlichem Blick nicht als solchen identifizieren konnte, was zu einem verzogenen Gesichtsausdruck, einem schnellstmöglichen Ausspucken inklusive auftretendem Würgereflex, gefolgt von Flüchen bei dem Versuch führe, ein Stück davon zu konsumieren. Arno Otto Schmidt ist in Hamm geboren und der Autor des unlesbarsten und gleichzeitg unhandlichsten und teuersten Buches, das ich jemals erworben habe. Ich habe es mehr als zehn Mal versucht, kam aber nie weiter als bis Seite 220 und ich lese eigentlich vorwiegend und mit viel Spaß Literatur, die als sehr schwierig gilt, aber dieses Ding ist eine verdammte Zumutung. Falls mir mal jemand begegnen sollte, der Zettel’s Traum komplett gelesen hat, werde ich die Person ohne weitere Fragen heiraten.

Hamm-Nord, wo das Haus verortet ist, das meine bescheidene Zweizimmerwohnung enthält, liegt oberhalb von Hamm-Süd, sowohl in zweifacher Hinsicht geographisch (das heißt, wie schon am Namenszusatz abzulesen, nördlich, gleichzeitig aber auch auf einem Berg) als auch sozial. Hamm-Süd ist deutlicher ein Industrieviertel als Wohngebiet, eine hohe Zahl von Gebrauchtwagenhändlern und Werkstätten haben sich hier niedergelassen, genau wie eine an der Gesamtbevölkerungszahl gemessen höhere Menge Gestalten, mit denen man besser keinen Ärger sucht. Es riecht dort immer nach Kaffee wegen der Tchibo-Rösterei, in manchen Blocks wirklich jeden Tag von Morgens bis Abends, was gleichzeitig ganz wunderbar und extrem irritierend ist, da man das Gefühl nicht los wird, mit jedem Atemzug einen ordentlichen Schluck Koffein zu sich zu nehmen. Man kann in Hamm-Süd gute Fotos machen und an der „Hammer Grillstation“ (Hammername!), die zwar nicht aussieht, als würden dort Hygienevorschriften eine große Rolle spielen, dafür aber umso großartiges Zeug verkauft, eine Menge auf verschiedenste Arten zubereiteter toter Tiere essen, wenn man zu dem Personenkreis gehört, der das tut, genau wie beim Griechen „Der Grieche“, dessen naturgemäß ebenfalls auf Fleisch spezialisiertes Angebot die bizarrsten Portionsgrößen hat, die man sich vorstellen kann (und ich kann mir wirklich viel vorstellen). Zumindest war es vor ein paar Jahren so, dass mein Magen, wenn ich dort einen Kinderteller Gyros bestellte, auch dann irgendwann die Waffen streckte, wenn ich mich den restlichen Tag extra ausgehungert hatte. Nicht unweit davon, in der Süderstraße, befindet sich der Straßenstrich, der, wenn man dem kleinen Stadtteilblättchen glauben darf, das manchmal im Postkasten liegt, für einiges an Diskussionsstoff unter den Einwohnern von Hamm sorgt. Wenn man nach Einbruch der Dunkelheit mit dem KFZ nach Hause unterwegs ist und eben jene sehr lange Straße durchqueren muss, dann winken einem in regelmäßigen Abständen (es ist natürlich logisch, dass sie sich nicht nebeneinander stellen, denn dann würden sie sich direkte Konkurrenz bei der Jagd auf Kunden machen [wohingegen wohl keiner, der solche Angebote nutzt, ein zweites Mal anhalten und eine eben eingesammelte Dame wieder aus dem Auto bitten würde, weil er fünfhundert Meter eine andere gesehen hat, die ihm dann doch mehr zusagt], aber auch traurig, denn so stehen sie permanent allein dort) halbnackte Frauen auf hochhackigen Schuhen, dem Aussehen nach aus osteuropäischen Ländern stammend (die Frauen, nicht die Schuhe), vom Fahrbahnrand zu und man winkt dann am Besten einfach freundlich zurück und fährt weiter bis zum Kreisel, nimmt dort die dritte Ausfahrt und ist fast schon wieder im oberen Teil von Hamm. Die Häuser in Hamm-Süd sind, genau wie die in Hamm-Nord, überwiegend aus roten Backsteinen. Die Backsteine machen es irgendwie leichter, sich vorzustellen, wie der ganze Stadtteil gebaut wurde, wie die Leute bei jedem Haus Ziegel auf Ziegel gestellt haben, nachdem Hamm im zweiten Weltkrieg zum zweiten Mal fast vollständig zerstört wurde (das erste Mal haben es die Franzosen niedergebrannt, um besser auf die Russen schießen zu können, die kurz nach 1800 anrückten, und ich weiß nicht genau, was die Franzosen hier verloren hatten oder warum die Russen anrückten, aber ich mag die Geschichte von Hamm und bin mir sicher, dass es auch dann wieder aufgebaut würde, wenn es noch weitere siebzehnmal zerstört würde, beim nächsten Mal wäre ich selbst dabei – es passt irgendwie zu Hamm und dem typischen Hammer, der sich nicht so leicht aus der Ruhe bringen lässt, dass so ein bisschen Niederbrennen und Wegbomben innerhalb eines Zeitraums von 150 Jahren dem Stadtteil nichts anhaben konnte).

Kaninchen haben den kompletten Garten des Hauses untergraben, in dem ich wohne. Hier im Hamm leben überall wilde Kaninchen, ich habe nie verstanden, was die zum Teufel mitten in der Stadt wollen, aber es scheint ihnen gut zu gehen. Wenn man auf den Balkon geht, kann man im Garten immer Kaninchen sehen, die augenscheinlich irgendwelche komplexen Pläne zur weiteren Eroberung des Stadtteils aushecken. Ansonsten sehe ich Bäume, ein Haus gegenüber und keine Straße, denn die läuft auf der anderen Seite meines Hauses entlang. Als mich kürzlich eine alte Bekannte zum ersten Mal hier besuchte, war sie sehr verwundert, dass es bei mir trotz geöffneter Balkontür so still ist. Das hätte sie sich bei einer Wohnung mitten in Hamburg nicht vorstellen können, sagte sie. Konnte ich auch nicht, bevor ich nach Hamm zog.


Kaskade 7-1

Ein Manifest gegen die Beliebigkeit. Jemand stolpert über etwas. Etwas fällt über jemanden her. Neun Monate später kommen die Resultate. Dann: Sich ungebührlich in Illusionen verhangeln, die Etikette schlimm missachten, weil man keine Ahnung hat, welcher Fluchtweg sonst noch offenstünde. Wenn es ernst wird, nimmt jeder Reißaus, bekanntes Verhalten als Ausrede, Gemütlichkeit und Faulheit behalten Oberwasser, ob es den Tiefgang unter der still glänzenden Grenzfläche gibt, bleibt ungewiss, wenn keiner taucht. Ich möchte einen Roman schreiben, in dem die Protagonisten auf Strukturebene wechselseitig miteinander verschmelzen, so dass niemand mehr weiß, welche Figur eigentlich welche Charakterzüge trägt, es sei denn, er nimmt Zettel und Stift und schreibt jede Seite mit. Kostbares Wissen wird von einer Maschine einfach verschlungen, unbezeugte Taumelbewegungen vor einer wirklich gewichtigen Entscheidung. Unlängst eingetroffen: Die Vehemenz eines nicht sonderlich spezifischen Raunens. Ich stelle mir Menschen wie Planeten vor, auf denen sich tektonische Platten langsam verschieben, Vulkane unter der Wasseroberfläche aufbrechen, Gräben aufreißen, Gebirge verschoben werden, bis sich irgendwann Kontinente (de)stabilisieren. Wenn man es ernsthaft macht, dann ist das Schreiben wie sich mit einer Rasierklinge Wunden zufügen, damit sie endlich heilen, paradoxer Müll, der eigentlich gar nicht funktionieren dürfte. Ich stelle mir Menschen vor, denn ich habe nur Texte und ich weiß gar nicht, ob das ein schrecklicher Fluch oder ein Segen ist.


Nanoskop (XXXI)

Dann wieder: Ortloses Heimweh. / Wie weit kannst Du Dich, nur so in Gedanken, von Deinen eigenen Meinungen entfernen, ohne dass es unangenehm wird? (weiter = besser) / Kompliment „My Someone“. / Für Suizid wird man irgendwann einfach zu alt. / „Und welche Musik magst Du so?“ – „Die Namen meiner Lieblingsbands hast Du noch nie gehört und ich habe auch keinen Bock, sie aufzuzählen.“ / Frischgepflückte Eitelkeit. / Der viel schwierigere Teil ist es, Gedanken möglichst verlustfrei in Worte zu übersetzen. / Hinweisschild „Vor dem Rotieren unbedingt das Leichentuch verzehren. Verhedderungsgefahr!“ / Nicht weit vom Stamm fallen, Reifen, richtig Aufblühen, Früchte ernten, letztes Aufbäumen („Unkraut vergeht nicht!”), dann ins Gras beißen. / „In der Selbsthilfegruppe ‘Schüchterne Narzissten’ war ich wieder mal der Klügste, aber ich hab mich nicht getraut, es zu sagen ;(.“ / In Hamburg leider nutzlos: Das Cyanometer. / Sent from my Guillotine. / Naturgesetz: Je weiter Momente in der Vergangenheit oder in der Zukunft liegen, desto besser werden sie. / „Über das Unsagbare spricht man nicht.“


Konzert.

Ich sitze in einem Zelt. Ich sitze in einem Zelt an einem See in einem Wald. Ich sitze in einem Zelt an einem See in einem Wald, es ist stockfinstere Nacht und ich bin alleine hier. Aber ich bin nicht alleine hier. Viele von denen, die sonst noch hier sind, kann ich hören, sie sind überall um mich herum. Ich werde ihnen die ganze Nacht lang zuhören, denn sonst habe ich hier nichts zu tun. Zuerst höre ich die Enten und Schwäne, die in einer großen Gruppe irgendwo auf dem See unterwegs sind. Nach einiger Zeit bemerke ich, wie sich das konstante Zirpen von Grillen in das immer wieder anschwellende und verstummende Geschnatter mischt.

Ich habe am frühen Abend einen Rucksack mit einem Schlafsack darin und ein Zelt in mein klappriges Auto gepackt und bin von Hamburg aus etwa 60 Kilometer nach Norden gefahren. Auf der Karte entdeckte ich während der Fahrt mitten im Nirgendwo ein Naturschutzgebiet mit einem See, an den ich so nah wie möglich heranfuhr. Dort parkte ich das KFZ, schulterte Rucksack und Zelt und wanderte eine halbe Stunde durch den Wald um den See herum. Als ich eine geeignete Stelle direkt am Ufer gefunden hatte, baute ich das Zelt auf, las einige Zeit gelangweilt in einem Buch und wartete darauf, dass es dunkel wurde. Dann wurde es dunkel.

Der weitaus größere Teil meiner Gesellschaft schweigt die ganze Nacht: Weberknechte, Spinnen, schwer identifizierbare Insekten verschiedener Arten und Nacktschnecken belagern in Massen mein Zelt. Still ist es zu keiner Zeit an diesem Ort, im Gegenteil herrscht eine absolut erstaunliche Geräuschkulisse. Ab etwa 23 Uhr folgt der psychedelische Teil des akustischen Erlebnisses: Verschiedene Gattungen von Fröschen, die am Rande des Wassers Töne erzeugen vermischen sich mit einer nachtaktiven Schaferde, die auf der anderen Seite des Sees ihr merkwürdiges Unwesen treibt. Das einander immer wieder überlagernde Wechselspiel der Stimmen der Frösche und der Schafe, oft unterbrochen von undefinierbaren Lauten und gelegentlich dezent untermalt vom Rauschen einer weit entfernten Bahn, zieht sich über Stunden.

Eineinhalb Stunden lang ist es etwas ruhiger. Nur ein paar leise summende Mücken, die einen Weg in das Zelt gefunden haben, durchbrechen die Stille. Ich dämmere etwa eine Stunde verstört vor mich hin.

Um etwa vier Uhr Morgens beginnt die Hauptvorstellung. Es sind eine gefühlte Million Vögel, die in Dolby Surround spielen. Sie spielen verdammt komplexe Songs mit verschachtelten Strukturen, die Gruppen von Akteuren und Einzelinterpreten wechseln in Verlauf der vierstündigen Darbietung permanent. “Das müssen mindestens hundert verschiedene Tiere sein, die da draußen parallel Laute erzeugen”, denke ich nach einiger Zeit, bin mir etwas später aber nicht mehr sicher, ob mein Verstand mit dieser Einschätzung nicht doch übertreibt. Ich höre mir die komplette Show an, es ist eines der surrealesten Erlebnisse, die ich seit langer Zeit hatte, obwohl es doch eigentlich eines der natürlichsten Dinge ist, die man erleben kann. Ich stelle mir beim Zuhören vor, wie die Vögel aussehen, die diese so unterschiedlichen Gesänge von sich geben, bei den Sopranisten stelle ich mir zierliche, bunte, kleine Tierchen vor, die in Scharen in den Ästen der Bäume vergnügt nebeneinander pfeifen, die Bassstimmen machen in meiner Phantasie dicke, grimmige Einzelgänger im Unterholz. Oft ist auch eine Art von Percussion in den Vogelstimmen, surrende, scharrende Laute, die wenig Melodie haben. Meine Lieblingsinterpreten unter vielen eigentlich viel ausführlicher zu erwähnenden sind das Federvieh, das etwa eine halbe Stunde lang in verschiedenen Modulationen zwischen ganz anderen Gesängen immer wieder ein Geräusch macht, das klingt, als hätte man dem Miauen einer Katze jeweils den ersten und letzten Laut entfernt (er bekommt den Spitznamen “Halbe Katze”) und ein herausragender Sopran, der nur ein paar Minuten lang ein Solo vorträgt, dessen Melodie mir weit über diese Nacht hinaus im Gedächtnis bleibt, weil es in seiner Schönheit alles andere übertrifft, was ich in dieser Nacht zu Ohren bekomme.

Niemand weiß, dass ich hier rausgefahren bin. Bis ich am frühen Abend beim Aufräumen über mein in den letzten Monaten zu selten genutztes Zelt gestolpert bin, wusste ich selbst nichts von der Idee. Vielleicht bin ich tatsächlich nur deswegen gekommen, um, zusammen mit dem vielen anderen niederen Getier, das selbst keine Töne erzeugt, diesem Konzert zu lauschen. Je länger ich konzentriert zuhöre, desto mehr glaube ich, dass ich genau deswegen hier bin.

Gegen acht Uhr geht die Sonne hinter ein paar tiefhängenden Wolken auf. Ich krieche durch die Öffnung nach draußen und blicke auf das Schilf und den See, der keine zwei großen Schritte von mir entfernt liegt, der wirklich eindrucksvolle Teil der Vorstellung ist inzwischen vorbei. Eine einsame Möwe zieht im Tiefflug über das Wasser und kreischt dabei langgezogen, während ich eine Zigarette rauche. Das Kreischen der Möwe klingt extrem vergnügt, als würde sie voller Erstaunen über sich selbst rufen: “ICH FLIIEGE, ALTER, ICH FLIIIIIEGE!”

Ich packe meine wenigen Sachen, rolle den Schlafsack zusammen, stecke ihn wieder in die Plastiktüte und dann in den Rucksack. Ich ziehe die Heringe aus dem Boden, verstaue sie in der kleineren Tüte, befreie die Stangen vom Zelt, falte sie zusammen und stecke sie in die große Tüte, platziere das Überzelt erneut sorgfältig über dem Zelt, falte das Paket sorgfältig mehrmals und schaffe es gerade so, den ganzen Kram in die Zelttasche zu stopfen. Ich habe Glück: Als ich den Weg zum Auto fast beendet habe, beginnt es in Strömen zu regnen. Zu Hause angekommen, breite ich den im Laufe der Nacht außen leicht feucht gewordenen Schlafsack aus, um ihn zum Trocknen aufzuhängen. Eine winzige, offenbar noch sehr junge Schnecke, die vom See mit mir nach Hamburg gereist ist, fällt auf den Küchenboden und will sich, so schnell sie kann, irgendwo verkriechen. Sie kann nicht besonders schnell. Ich sammle sie auf und trage sie vorsichtig runter in den Garten. Wir sind Komplizen.


Nanoskop (XXX)

Ich mag es, wie Wasser kurz ganz leise wird, bevor es anfängt zu kochen. / Ich will mit Dir ctrl+z werden. / Katharsis und Nudelsuppe. / „Lange Nacht der Musen“ klingt besser als „Management von simultanen Verabredungen an völlig verschiedenen Orten“. / Gerda Blocksberg, die magische Putzfee. / Wollte ich als Nerd ein stressfreies Leben, dann bräuchte ich nur ein Grundeinkommen, kostenlose U-Bahn und Zeug zum Runterla… Moment mal. / Stell Dir vor, Du machst Deine Wohnungstür auf und dahinter ist plötzlich die Wüste Gobi. / Dringender Rat: Niemals Literaturwissenschaften studieren (höchstens B.A.). Je mehr Worte und Gefühle Du kennst, desto schrecklicher wird alles. / Gelangweilte Menschen verschwenden fünf Sechstel der Weltzeit. Ich prangere das an. / Symbolbild aus Text. / Punkt, Punkt, Komma, Strich – fertig ist das Interpunktionscarepaket für Dich. / „Das hat noch nie jemand zu mir gesagt.“ – „Das hör ich dauernd.“ / Anfängerkurs Kauderwelsch für Sinnphobiker.  / Das Geräusch hat sich irgendwo verfangen.