Der Wunsch hatte ihn über Jahre gemartert. An dem Tag, an dem die Sterne vom Himmel fielen, setzte Nicolas zum ersten und letzten Mal einen Fuß auf das Stück Erde, das ihn jeden einzelnen Tag beschäftigt hatte, seitdem seine Tochter gestorben war. Er war noch kein alter Mann, aber die Zeit, in der er sich beim Anblick von jungen Frauen ernsthafte Chancen ausmalen konnte, war lange vorbei. In den letzten Jahren hatte etwas von ihm Besitz ergriffen, dass er selbst „die Mauer meines Turms“ nannte.
Ich wies ihn wiederholt darauf hin, dass ein Turm in der Regel identisch mit der Mauer war, dass Türme also selten zusätzliche Mauern hatten, außer als Bestandteile einer Burg, und nannte es für mich eine Post-Depression. Er war gewissermaßen über eine permanent-krankhafte Traurigkeit hinweg gekommen, nicht indem er etwas dagegen getan hätte oder indem er die Gleichgültigkeit als Ausweg gewählt hätte, sondern indem er das Gefühl zu einem Teil seiner Persönlichkeit hatte werden lassen, es akzeptiert hatte, als ob es ein ganz natürlicher Zustand wäre. Keine Verzweiflung mehr, keine Flucht in exzessiven Konsum von Rauschmitteln und keine Tage, in denen er, unfähig, sich der Welt, die er in größeren Teilen zutiefst verachtete, zu stellen, sein eigenes kleines Reich bestehend aus Haus und Garten nicht verlassen konnte. Er lebte einfach weiter, als ob es das normalste der Welt wäre, mit einer ausgewachsenen Depression zu leben und er machte damit keine schlechte Figur, meistens machte er, obwohl ich das ungern zugebe, sogar eine bessere als ich selbst. Zumindest schien das aus meiner Sicht so. Natürlich kaschierte er im Alltag (eher unbewusst als bewusst) seinen Zustand mit einer Schicht Sarkasmus, die dick genug war, um die zufälligen Begegnungen und kurzfristigen Bekannt- und Liebschaften nicht wirklich etwas von sich sehen zu lassen, aber er verheimlichte auch nie aktiv Dinge, wenn man ihn ausdrücklich genug fragte.
Nur diese eine Sache hatte ihn nie losgelassen, und jetzt, als wir endlich hier angekommen waren, stand er nur da, warf einen kurzen Blick hinunter auf den Wald und sagte: „Es sind nur Scheißbäume, Michael. Es sind einfach nur Scheißbäume.“ Sein Blick wanderte zu mir und für den Moment, in dem wir uns ansahen, hatte ich das Gefühl, mit einem grenzdebilen Idioten unterwegs zu sein. Ich sagte: „Ja“, und dann fuhren wir die vierhundert Kilometer zurück, ohne dass er ein weiteres Wort darüber verlor. Ich weiß nicht, was er sich dort zu finden erhofft hatte, auch wenn wir im Vorfeld lange darüber diskutiert hatten. Ich wusste zumindest, dass wir nicht hierher gekommen waren, um eine Lösung seiner Probleme oder Ähnliches (er würde nicht davon sprechen, Probleme zu haben, das war nicht sein Verständnis von Dasein) zu finden, aber irgendetwas hatte er doch erwartet, das konnte ich in der verächtlichen Art lesen, mit der er mir den Satz über die Bäume zweimal vor die Füße gespuckt hatte. Und ich hatte auch etwas erwartet. Der Mann war mein bester Freund, aber ich war mir nie sicher, ob er in der Lage war, etwas wie Freundschaft in meinem Sinne zu empfinden. Natürlich konterte er solche Äußerungen in der Regel mit der Aussage, dass niemand in der Lage wäre, Gefühle in Worte zu fassen oder die Emotionen eines Gegenübers nachzuvollziehen, was schlussendlich auch den Erfolg von Literatur und Musik im Allgemeinen ausmachen würde, nämlich genau diese natürliche Barriere zwischen Menschen einzureißen, aber ich kaufte ihm nie ganz ab, dass er wirklich so dachte. Es war nur ein Stein aus seinem Turm, den er mir da ganz unschuldig als eines seiner inneren Organe getarnt vor die Nase hielt, wie er es oft tat, um mit diebischer Freude zu beobachten, wie ich den Köder von allen Seiten inspizierte und schließlich entweder schluckte oder zur Seite fegte. Ich fasse das nicht als bösen Willen von ihm auf, dieses kleine Theaterstück gehört einfach zu unseren in Laufe der Zeit gewachsenen Ritualen. Ich bin sein Freund und ich bin keiner von diesen Schwachköpfen, die man heute leider immer öfter trifft, die dieses Wort an der Quantität von Zeit, die man miteinander verbringt oder noch schlimmer, an gemeinsamen Erlebnissen und Gesprächen festmachen. Freundschaft ist viel mehr eine Art von Zuneigung, die der Liebe sehr ähnlich ist, wenn man es genau betrachtet, und genau wie die Liebe entzieht sie sich unserem eigenen Willen. Man kann sich von Leuten fernhalten, die einem objektiv oder subjektiv eher schaden als nützen, ihnen die Freundschaft kündigen (der Begriff ist falsch, es ist kein Vertrag, der geschlossen wird), aber schlussendlich kommt man auch in diesem Falle nicht umhin, um sie zu trauern, wie um eine verlorene Liebschaft.
Auf der Rückfahrt hatten wir einen Unfall. Der Fahrer eines Autotransporters, der sieben nagelneue Mercedes gehobener Klasse (ich kenne die genaue Typenbezeichnung nicht, aber sie wissen, was ich meine, diese schwarzen, großen Schlitten, die von Politikern gefahren werden) mit sich führte, bekam in seiner Kabine bei zu hoher Geschwindigkeit und vermutlich in Folge jahrelangen Alkohol- und Zigarettenkonsums gegen die Sorgen des Fernfahrerdaseins einen Schlaganfall, verlor die Kontrolle über seine grundlegenden motorischen Fähigkeiten (ein relativer dümmlicher und unabsichtlicher Wortwitz, der mir in diesem Text erst bei der zweiten Korrekturlesung auffiel) und rammte direkt neben uns ungebremst einen Brückenpfeiler. Wir überlebten mit ein paar leichten Verletzungen, auch wenn einer der Wagen, die durch den Aufprall heruntergeschleudert wurden, kopfüber direkt vor unserem alten Ford auf der Fahrbahn landete. Nicolas erzählte mir später, dass er genau diesem Moment das Gefühl hatte, mit sich und der Welt absolut im Reinen zu sein und dass es genau deswegen vielleicht das Beste gewesen wäre, wenn dort für ihn alles geendet hätte. An einem Abend zwei Monate danach, an dem wir beide deutlich zu viel Akohol konsumiert hatten, fing er sogar an, mich dafür zu beschimpfen, dass ich dem herabfallenden Wagen ausgewichen war, er beschuldigte mich auch, den Turm um ihn eigentlich erst errichtet zu haben. Ich kam zu dem Schluss, dass das nur wieder einer seiner mir vor die Nase gehaltenen Steine war. Was sollte ich auch sonst tun?