Oberneuland.

Im Hafen der Satellitenstadt liegt ein ziemlich großes Transportschiff aus Israel vor Anker, schon seit Jahren, es rostet dort nur noch vor sich hin. Dein Vater rät mir in dem viel zu teueren Restaurant zu Fischsuppe, ich stimme euphorisch zu. Ich will ihm gefallen und erinnere mich daran, dass Du mir erzähltest, was er über mich sagte (sinngemäß: dass er sich jetzt keine Sorgen mehr um seine Tochter im fernen Bayern machen müsse, seitdem er wisse, dass ich existiere). Später fickst Du mich in dem Zimmer, in dem Du aufgewachsen bist und erklärst mir danach, dass Dir das besonders gefallen hätte, weil es sich so verboten anfühlte. Die Katze springt währenddessen mehrfach nach der Klinke und bekommt die Tür trotz dieses mühsam erlernten Tricks nicht geöffnet, weil sie abgeschlossen ist. Ich reiße den schmutzigen Witz, dass Deine Mutter wohl mitmachen wolle.

Am nächsten Morgen lese ich in diesem Buch, das im Regal vor sich hinsteht und danach bettelt, endlich wieder in die Hand genommen zu werden, historische Informationen über den früheren Hafen, mit denen ich bei Deinem Vater Eindruck schinden kann. Ein paar Jahre später tituliert er mich als Waldschrat, ich habe vergessen, über welche Kanäle mir diese Aussage zugetragen wurde, denn Du und ich reden zu diesem Zeitpunkt schon lange nicht mehr miteinander. Er hat wohl Recht damit, aber für einige Zeit konnte ich den Schein aufrecht erhalten. Ich glaube, dass das gemeint ist, wenn die Zeile „I’m not like them, but I can pretend“ gesungen wird.

Noch viel später werde ich von einer Frau liebevoll „Schrati“ genannt. Ich habe es umgedreht und mir zu Eigen gemacht, genau wie die Gangsta-Rapper, die sich selbst als „Nigger“ bezeichnen.


Hand in Hand.

Die Frau von der Tankstelle hat eine Phobie, die mit Händen oder Berührungen zu tun hat. Ich habe es lange beobachtet. An manchen Tagen trägt sie Handschuhe und kommt so gar nicht erst in Gefahr, die Hand eines Kunden berühren zu müssen. An den Tagen, an denen das nicht der Fall ist, versucht sie alles, um zu vermeiden, dass ihr die Menschen, die bezahlen wollen, das Geld direkt in die Hand geben. Sie tut dann so, als würde sie irgendetwas an der Kasse eintippen oder geht einen Schritt zurück, damit man die Münzen oder Scheine auf den kleinen gläsernen Geldtresen (haben diese Dinger eigentlich einen Namen?) legt und das Wechselgeld legt sie auch dorthin, selbst wenn man zögerlich die Hand aufhält. Wenn man es darauf anlegt und die Handfläche über das Ding ohne Bezeichnung hält, so dass sie nicht anders kann, dann nähert sie sich mit ihrer Hand erst ganz normal der eigenen Handfläche, um die Münzen im letzten Augenblick zu werfen und ihre Hand schneller als ein gewöhnlicher Mensch wieder zurückzuziehen. Wenn man nicht darauf achtet und nichts weiß von den Handschuhen und von dem Geldtresen, dann wirkt es fast ganz normal, wie sie das Wechselgeld reicht, aber wenn man die Sache einmal bemerkt hat, dann kommt man nicht umhin, immer wieder den Eindruck einer Fütterung einer bissigen Schlange zu haben. Sie muss sehr viel Übung in dieser Bewegung haben, denn ihr fällt dabei nie eine Münze daneben.


Rolle, alt.

Das knallbunte Geschnatter der Mädchen am Vorabend des Festes, es ist entzückend, es fragt nach Schönheit und irgendjemand muss diese Fragen doch stellen und wer wenn nicht sie?

Wenn dann Träume langsam verfliegen und später Kleider verschwinden, wenn graue Realitäten von schwitzenden, gierigen Leibern von trunkenen Kerlen das einholen, dann gleicht es sich alles aus und ist wieder bei Null.

Keiner von uns kann etwas für seine Rolle, wir haben sie doch nie gewählt. Fische, sie schwimmen, ich schreibe, du singst und jemand anderes jongliert mit den Zahlen und so verteilt sich das Wissen und alle tun das, was sie können und lieben. Dann gibt es aber auch noch diejenigen, die Dinge nur tun auf der Suche nach Ruhm oder Geld. Aber wir enttarnen sie bald, denn sie sind die seelenlosen Söldner in einer individualistischen Welt.


Reflektion über Zerrspiegel.

Morgens gehört sie mir, verstehen Sie? Ich habe von Säure geträumt und davon, dass ich der Vergewaltigung angeklagt war.

Mein Körper spielt so etwas wie guter Cop – böser Cop mit mir und auch hier bin ich der Angeklagte, über dessen Schuld zumindest die Exekutive schon entschieden hat, es geht nur noch um das Geständnis. Wenn ich aufwache (die ersten Zigaretten des Tages oft bereits im Dämmerschlaf konsumiert) und das Licht und die Farben nach dem Öffnen der Augen immer wie ein kleines Wunder wirken, wie etwas, das alles andere als selbstverständlich ist, dann ist eigentlich der ideale Zeitpunkt, um zu einer Tastatur zu greifen und Worte niederzuschreiben. Die Technik hat es glücklicherweise geschafft, Geräte zu entwickeln, dank deren Hilfe ich dafür das Bett nicht verlassen muss. Mein Kopf ist noch leer, der vielgestaltige Seelenmüll der zu lange mit Menschen verbrachten Nacht ist weggeträumt, ein weißes Blatt liegt da und wartet darauf, gefüllt zu werden.

Diese Art, Gedanken zu verfassen, ist gewissermaßen das Gegenteil von Tagebuch schreiben, man schreibt frühmorgens, wenn man noch niemanden gesehen hat und gar nichts erlebt hat, eher prophetisch als reflektierend. Inhalte sind austauschbar, es geht immer nur um Strukturen. Der kitschigste Lovesong kann mit denselben gesungenen Worten ein Klassiker werden oder eben ein scheißkitschiger Lovesong bleiben, bei dessen akustischem Anblick sich jeder, der auch nur einen Funken von Geschmack hat, mit einem Schraubenzieher das Trommelfell ausschaben will. Meine Augen brennen, als in die Sonne gucke, da draußen wartet die Welt auf mich. Ich werde sie versetzen müssen, denke ich und lächle in mich hinein.


Isolat.

Früher Morgen im Dezember, der Schall klirrt surreal in den Ohren, wenn man spricht. Ich sitze im Park auf einer Bank und lausche über weiße Kopfhörer, die entlang dem Stoff meiner Jacke laufen und in meiner Manteltasche münden, Menschen mit Bärten, die von Liebe singen und davon, dass man unter freiem Himmel schlafen soll. Ich erinnere mich kaum noch daran, wann ich das letzte Mal unter freiem Himmel geschlafen habe, es muss zu einer Zeit gewesen sein, als wir uns noch nicht kannten, denn wir haben etwas derartiges nie zusammen getan. Nicht, dass wir es nicht geplant hätten, im Pläne schmieden waren wir immer große Klasse. Wir taten im Grunde nichts weiter, als zu zweit die Phantasien zu neuen Höhepunkten zu spinnen, die wir unabhängig voneinander schon pflegten, bevor wir uns trafen und das war wahrscheinlich unser großer Fehler. Wir multiplizierten einfach Minus und Minus und glaubten an die Geschichten aus dem Mathematik-Unterricht.

Eine Joggerin läuft mit einem Hund vorbei, mit Handschuhen kann man nicht in dieses Gerät tippen, meine Finger laufen nach einiger Zeit bläulich an. Wenn mir ein Arzt mit der routinierten Miene eines Menschen, zu dessen Job es gehört, solche Nachrichten zu überbringen („setzen Sie sich besser“) heute sagen würde, dass ich nur noch ein Jahr zu leben hätte, würde ich morgen früh anfangen bis spät in die Nacht zu schreiben, um noch einen vernünftigen Roman fertig zu bekommen anstatt mir endlich wieder ein Leben zu besorgen. Es ist ein systematischer Fehler bei mir, dass ich weiß, wie sehr das Schreiben brauche, aber dennoch immer wieder mit dieser eigentlich zementierten Notwendigkeit innere Kämpfe austragen muss, die an die Substanz gehen. Der Ausdruck Agrafie beschreibt die Unfähigkeit, Worte und Texte zu produzieren, obwohl die geistigen und motorischen Fähigkeiten dafür vorhanden sind. Agrafie tritt auf nach Schlaganfällen oder nach Isolationshaft. Es ist ein physisches Problem mit dem Gehirn. Für Schreibblockaden, also die psychische Unfähigkeit, die sich oft auch in körperlichem Unwohlsein beim Versuch des Schreibens manifestiert, gibt es meines Wissens kein Fremdwort.

Ein verwirrter Obdachloser fragt mich nach der Uhrzeit, fügt im selben Augenblick hinzu, dass sie sowieso keine Rolle spiele und ich glaube ihm. Meine Finger schmerzen jetzt bei jedem Buchstaben, den ich tippe, aber das hat auch etwas Positives, es gibt mir mehr Zeit, die Sätze so zu formulieren, dass ich sie mir selbst abkaufen kann.


Danach.

Ich bin instabil, drehbar gelagert, schattengierig. Deine Augen blicken auf meinen Mund. Wir schwimmen im Kreis und interessieren uns nicht für die Hände und die Beine und die Körper und die Köpfe der Menschen um uns herum, denn es zählt nur der Moment, der Moment des Hier und des Jetzt. Du bist zerbrechlich, stehst dennoch auf betoniertem Boden, bietest Halt in Deiner eigenen Haltlosigkeit. Ich verachte uns beide für unsere Fehler, Du liebst uns für das, was wir zusammen sind und diese beiden unterschiedlichen Blickwinkel auf dieselbe Sache treffen sich im Gewimmel dieser Nacht, verknoten sich heillos ineinander und formen Dinge, die ohne jeden Zweifel über die Gegenwart hinaus reichen.

„Ich bin schon spät dran, ich muss langsam mal los“, sage ich. Und dann gehe ich weg. Wir werden uns nicht wieder begegnen.


Fragestunde (IX)

a) Arbeitest Du mit Menschen zusammen, die Du als Deine Freunde bezeichnen würdest?

b) Wenn ja: Warst Du bereits vor der Zusammenarbeit mit diesen Menschen befreundet oder rührt die Freundschaft aus der Zusammenarbeit?

Wenn nein: Woran liegt das? Sind Deine Freunde außerhalb Deiner Arbeit Menschen, mit denen Du Schnittmengen hinsichtlich Deiner Aktivitäten habst?

c) Erkennst Du ein Muster in den Antworten auf die Fragen a und b, wenn Du auf die bisherigen Tätigkeiten in Deinem Leben zurückblickst? Haben sich diese Muster im Laufe der Zeit verschoben?


Freier Fall.

Der Wunsch hatte ihn über Jahre gemartert. An dem Tag, an dem die Sterne vom Himmel fielen, setzte Nicolas zum ersten und letzten Mal einen Fuß auf das Stück Erde, das ihn jeden einzelnen Tag beschäftigt hatte, seitdem seine Tochter gestorben war. Er war noch kein alter Mann, aber die Zeit, in der er sich beim Anblick von jungen Frauen ernsthafte Chancen ausmalen konnte, war lange vorbei. In den letzten Jahren hatte etwas von ihm Besitz ergriffen, dass er selbst „die Mauer meines Turms“ nannte.

Ich wies ihn wiederholt darauf hin, dass ein Turm in der Regel identisch mit der Mauer war, dass Türme also selten zusätzliche Mauern hatten, außer als Bestandteile einer Burg, und nannte es für mich eine Post-Depression. Er war gewissermaßen über eine permanent-krankhafte Traurigkeit hinweg gekommen, nicht indem er etwas dagegen getan hätte oder indem er die Gleichgültigkeit als Ausweg gewählt hätte, sondern indem er das Gefühl zu einem Teil seiner Persönlichkeit hatte werden lassen, es akzeptiert hatte, als ob es ein ganz natürlicher Zustand wäre. Keine Verzweiflung mehr, keine Flucht in exzessiven Konsum von Rauschmitteln und keine Tage, in denen er, unfähig, sich der Welt, die er in größeren Teilen zutiefst verachtete, zu stellen, sein eigenes kleines Reich bestehend aus Haus und Garten nicht verlassen konnte. Er lebte einfach weiter, als ob es das normalste der Welt wäre, mit einer ausgewachsenen Depression zu leben und er machte damit keine schlechte Figur, meistens machte er, obwohl ich das ungern zugebe, sogar eine bessere als ich selbst. Zumindest schien das aus meiner Sicht so. Natürlich kaschierte er im Alltag (eher unbewusst als bewusst) seinen Zustand mit einer Schicht Sarkasmus, die dick genug war, um die zufälligen Begegnungen und kurzfristigen Bekannt- und Liebschaften nicht wirklich etwas von sich sehen zu lassen, aber er verheimlichte auch nie aktiv Dinge, wenn man ihn ausdrücklich genug fragte.

Nur diese eine Sache hatte ihn nie losgelassen, und jetzt, als wir endlich hier angekommen waren, stand er nur da, warf einen kurzen Blick hinunter auf den Wald und sagte: „Es sind nur Scheißbäume, Michael. Es sind einfach nur Scheißbäume.“ Sein Blick wanderte zu mir und für den Moment, in dem wir uns ansahen, hatte ich das Gefühl, mit einem grenzdebilen Idioten unterwegs zu sein. Ich sagte: „Ja“, und dann fuhren wir die vierhundert Kilometer zurück, ohne dass er ein weiteres Wort darüber verlor. Ich weiß nicht, was er sich dort zu finden erhofft hatte, auch wenn wir im Vorfeld lange darüber diskutiert hatten. Ich wusste zumindest, dass wir nicht hierher gekommen waren, um eine Lösung seiner Probleme oder Ähnliches (er würde nicht davon sprechen, Probleme zu haben, das war nicht sein Verständnis von Dasein) zu finden, aber irgendetwas hatte er doch erwartet, das konnte ich in der verächtlichen Art lesen, mit der er mir den Satz über die Bäume zweimal vor die Füße gespuckt hatte. Und ich hatte auch etwas erwartet. Der Mann war mein bester Freund, aber ich war mir nie sicher, ob er in der Lage war, etwas wie Freundschaft in meinem Sinne zu empfinden. Natürlich konterte er solche Äußerungen in der Regel mit der Aussage, dass niemand in der Lage wäre, Gefühle in Worte zu fassen oder die Emotionen eines Gegenübers nachzuvollziehen, was schlussendlich auch den Erfolg von Literatur und Musik im Allgemeinen ausmachen würde, nämlich genau diese natürliche Barriere zwischen Menschen einzureißen, aber ich kaufte ihm nie ganz ab, dass er wirklich so dachte. Es war nur ein Stein aus seinem Turm, den er mir da ganz unschuldig als eines seiner inneren Organe getarnt vor die Nase hielt, wie er es oft tat, um mit diebischer Freude zu beobachten, wie ich den Köder von allen Seiten inspizierte und schließlich entweder schluckte oder zur Seite fegte. Ich fasse das nicht als bösen Willen von ihm auf, dieses kleine Theaterstück gehört einfach zu unseren in Laufe der Zeit gewachsenen Ritualen. Ich bin sein Freund und ich bin keiner von diesen Schwachköpfen, die man heute leider immer öfter trifft, die dieses Wort an der Quantität von Zeit, die man miteinander verbringt oder noch schlimmer, an gemeinsamen Erlebnissen und Gesprächen festmachen. Freundschaft ist viel mehr eine Art von Zuneigung, die der Liebe sehr ähnlich ist, wenn man es genau betrachtet, und genau wie die Liebe entzieht sie sich unserem eigenen Willen. Man kann sich von Leuten fernhalten, die einem objektiv oder subjektiv eher schaden als nützen, ihnen die Freundschaft kündigen (der Begriff ist falsch, es ist kein Vertrag, der geschlossen wird), aber schlussendlich kommt man auch in diesem Falle nicht umhin, um sie zu trauern, wie um eine verlorene Liebschaft.

Auf der Rückfahrt hatten wir einen Unfall. Der Fahrer eines Autotransporters, der sieben nagelneue Mercedes gehobener Klasse (ich kenne die genaue Typenbezeichnung nicht, aber sie wissen, was ich meine, diese schwarzen, großen Schlitten, die von Politikern gefahren werden) mit sich führte, bekam in seiner Kabine bei zu hoher Geschwindigkeit und vermutlich in Folge jahrelangen Alkohol- und Zigarettenkonsums gegen die Sorgen des Fernfahrerdaseins einen Schlaganfall, verlor die Kontrolle über seine grundlegenden motorischen Fähigkeiten (ein relativer dümmlicher und unabsichtlicher Wortwitz, der mir in diesem Text erst bei der zweiten Korrekturlesung auffiel) und rammte direkt neben uns ungebremst einen Brückenpfeiler. Wir überlebten mit ein paar leichten Verletzungen, auch wenn einer der Wagen, die durch den Aufprall heruntergeschleudert wurden, kopfüber direkt vor unserem alten Ford auf der Fahrbahn landete. Nicolas erzählte mir später, dass er genau diesem Moment das Gefühl hatte, mit sich und der Welt absolut im Reinen zu sein und dass es genau deswegen vielleicht das Beste gewesen wäre, wenn dort für ihn alles geendet hätte. An einem Abend zwei Monate danach, an dem wir beide deutlich zu viel Akohol konsumiert hatten, fing er sogar an, mich dafür zu beschimpfen, dass ich dem herabfallenden Wagen ausgewichen war, er beschuldigte mich auch, den Turm um ihn eigentlich erst errichtet zu haben. Ich kam zu dem Schluss, dass das nur wieder einer seiner mir vor die Nase gehaltenen Steine war. Was sollte ich auch sonst tun?


Sichtfeld.

„Du könntest mit Deiner Meinung hinter mir stehen wie ein Spiegelbild.“

„Spiegelbilder stehen doch in der Regel eher vor der zu spiegelnden Person.“

„Nicht, wenn man ihnen den Rücken kehrt.“

„Gibt es wirklich ein Spiegelbild, wenn man nicht hinein sieht?“

„Ist das eine philosophische oder eine physikalische Frage?“

„Ich glaube beides. Also selbst wenn die Frage physikalischer Natur wäre, könnte man durchaus über sie streiten. Sie wäre wohl auch eher biologisch. Abbilder der Realität entstehen bekanntlich ja auf der Netzhaut des Betrachters.“

„Du denkst in die falsche Richtung. Was glaubst Du eigentlich, was wir mit dieser Meinung vorhaben?“

„Wir werden sie vertreten.“

„Und wo?“

„Vermutlich vor Jemandem.“

„Richtig. Und er wird uns gegenüberstehen. Also sieht er meine Meinung und Deine meine Meinung spiegelnde Meinung.“

„Ist dann der Spiegel überhaupt noch notwendig? Wenn er vor uns steht, sieht er sowieso uns beide.“

„Es ist nur eine Metapher.“

„Ich weiß. Ich will es aber trotzdem ausdiskutieren.“

„Natürlich ist der Spiegel noch notwendig. Damit er auch sich selbst sieht. Und unsere Übermacht im direkten Vergleich.“


Dreisam.

Er schreib ihr drei Briefe, dann schrieb er nicht mehr. „Buchstabenzähne, in unbeschriebene Blätter verbissen: Dieses hungrige Wir.“ Ein Wir, das nicht existierte, nie existiert hatte. Es gab bei genauerer Betrachtung der Umstände immer nur ihn selbst, und selbst das hätte ein fähiger Analyst mit etwas Zeit und mit dem entsprechenden Wissen um den in diesem Fall wohl notwendigen Fokus der Beobachtung höchstwahrscheinlich in Zweifel gezogen. Bernhard saß in seinem Sessel, zündete sich eine Zigarre an und guckte mich mit Augen an, die seinem Namen, der auf mich immer wie ein Name wirkte, den man einem behäbigen Tier geben würde, alle Ehre machten.

„Ich habe mich in der Tonart geirrt, das ist das Problem mit den Briefen, glaube ich“, sagte er und atmete langsam Rauch durch seine Nase aus. Er inhalierte Zigarren. Man sollte meinen, dass einen das umbringt, wenn man es ein paar Jahrzehnte praktizierte wie Bernhard, aber der Bursche war zäh. „Was willst Du eigentlich von mir?“, frage ich. „Lass mich nach Hause gehen. Ich kann Dir nicht mit Deinen Worten helfen. Was habe ich eigentlich verbrochen, dass ich mir das immer antun muss?“

„Erst, wenn Du verstanden hast, was ich Dir sagen will. Ich glaube, dass Du dann eine Lösung für das Problem findest. Du hast das bisher immer geschafft.“

Ich seufzte. Nicht, um ihm mitzuteilen, dass ich kapitulierte (er ging sowieso fest davon aus, dass ich ihm zuhören würde, die Ansage, dass ich gehen wollte, hielt er eher für eine Art inzwischen bedeutungslos gewordenes Ritual zwischen uns beiden, und vermutlich war es das wirklich), sondern eher als Notiz an mich selbst („Seufzer Nummer vierundzwanzig in einer Woche, Du musst Dein Leben ändern. Grundlegend ändern!“) und ließ ihn gewähren. Er öffnete die Schublade des Couchtisches, zog die Briefe und seine Lesebrille hervor, und begann damit, sie mir vorzulesen. Nach einiger Zeit verstand ich das Problem. „Du hast Dich nicht in der Tonart geirrt, Du hast Dich in der Zeit geirrt. Du schreibst ihr, als ob sie nicht mehr unter den Lebenden wäre“, sagte ich. „Zwischen den Zeilen klingt das immer wieder an. Natürlich ist das so, aber es passt nicht zusammen, Bernhard, die innere Logik dieser Briefe stimmt nicht, deswegen hast Du das Gefühl, dass sie so nicht funktionieren.“

Er guckte mich lange an, dann blickte er wieder auf die Papiere in seiner Hand. „Ich bin mir nicht sicher, aber Du könntest Recht haben“, sagte er. Anschließend drückte er die zu drei Vierteln aufgebrauchte Zigarre aus.  Der Rest blieb in dem Aschenbecher stehen wie ein untersetztes Ausrufezeichen. „Kannst Du bitte gehen? Ich muss einen Brief schreiben.“

Ich stand auf, ging in den Flur, zog meinen Mantel und meine Schuhe an und dann ging ich, ohne mich zu verabschieden. Drei Monate später hatte ich ein Paket im Briefkasten. Es waren knapp dreihundert Seiten und nachdem ich es zwei Mal gelesen hatte, war ich mir ziemlich sicher, dass es sein bisher bestes Buch war, obwohl ich ihn eigentlich schon lange in die Schublade derjenigen eingeordnet hatte, von denen nichts Brauchbares mehr zu erwarten war. Dieser Hurensohn hatte es noch einmal geschafft, mich richtig zu verblüffen. Und er hatte meinen Rat natürlich nur insofern befolgt, dass er das Problem explizit thematisierte. Ich grinste und ließ ihm Blumen schicken. Er würde sie dankend entgegennehmen und anschließend direkt in den Müll werfen, das wusste ich. Wir hatten unsere Rituale.


Zwischentöne.

„Ich wollte Dich doch anrufen. Es kam was dazwischen.“

„Was kam denn dazwischen?“

„Ich weiß nicht. Das Leben, wahrscheinlich.“

„Das Leben kommt immer dazwischen, oder?“

„Ja, ich schätze schon. Meinst Du, es gibt die Chance, dass zwischen uns keine Klamotten sind, wenn wir uns das nächste Mal sehen?“

„Ich schätze, das kommt sehr darauf an, was Du zwischenzeitlich so getrieben hast und ob Du Dir zwischen uns inzwischen mehr als keine Klamotten vorstellen kannst.“

„Das klingt wie ein Ja unter Vorbehalt.“

„Wahrscheinlich, weil es ein Ja unter Vorbehalt ist.“

„Lass uns treffen.“

„Das muss lass uns uns treffen heißen.“

„Lass uns einander treffen.“

„Wann und wo denn?“

„Keine Ahnung. Ich ruf Dich morgen an.“

„Falls nichts dazwischenkommt?“

„Genau.“


Lorem Ipsum.

Diese Atmosphäre kurz vor einem Gewitter, wenn alles in stärkere und unwirkliche Farben getaucht ist. So fühlte es sich an. Ich saß an meinem Schreibtisch und öffnete das Programm – Open Office, meine Freunde rieten mir immer zu Word, aber ich hatte es nicht hinbekommen, mir das Ding illegal zu besorgen und ich hegte zu wenig Sympathie für Microsoft, um der Firma Geld in den Rachen zu werden – aber es kam wieder nichts aus mir heraus. Schreibblockade. Es ist ein absolut grauenhaftes Gefühl, keine Worte zu finden, wenn man sonst ständig und überall erzählt, dass das Schreiben das Einzige wäre, das einen wirklich glücklich macht. Eine plötzlich auftretende Blockade (bei mir kommen die Dinger niemals schleichend) macht einen Schreiber von einer Sekunde auf die andere zu einem überflüssigen Fleischhaufen, der irgendwo in einer Wohnung vor sich hingammelt.

Irgendjemand hat mir einmal erzählt, dass der längste Schluckauf 70 Jahre gedauert habe. Ich habe das nie nachgeprüft, aber immer wenn ich eine Blockade habe, dann muss ich daran denken, dass sie auch so lange dauern könnte wie der längste Schluckauf der Menschheitsgeschichte. Möglicherweise sogar länger, falls ich in den nächsten 70 Jahrens das Zeitliche segne, wovon bei meinem Lebenswandel im Grunde fest auszugehen ist. Der Gedanke an den Schluckauf ist inzwischen zu einem von mir mit mir selbst veranstalteten Ritual geworden, in den Phasen, ich über Tage keinen vernünftigen Satz formulieren kann. Das leere Blatt, standardmäßig eingestellt auf Times New Roman (serifenlose Schriftarten liegen mir bei der ersten Formulierung von Gedanken nicht, ich muss mich an den Haken und Ösen noch unfertiger Sätze entlanghangeln können), starrt mich dann auf eine Art und Weise an, die dafür sorgt, dass mir körperlich schlecht wird. Nicht selten so sehr, dass ich nach einigen Minuten einen Würgereiz bekomme und das Programm schließen muss. Es fühlt sich an, als würde die weiße Fläche direkt in meinen Kopf hineinglotzen. Nietzsche hatte keinen Computer, aber ich glaube, dass dieses von Schwachköpfen aller Arten, die eigentlich keine Zeile Nietzsche gelesen haben, gern benutzte Zitat von ihm mit dem Abgrund genau jenes Gefühl beschreibt, das ich empfinde, wenn ich an solchen Tagen vor dem Computer sitze und versuche, einen Text zu produzieren.

Man kann es nicht erzwingen, wenn man Nichts schreiben kann, auch wenn ich selbst oft gerne das Gegenteil behaupte. Freunden, die irgendwann in ihrer Jugend mal Gedichte und Tagebücher geschrieben haben und gerne wieder etwas zu Papier bringen würden, aber nicht wissen, wo und wie sie damit anfangen sollen, erzähle ich oft, dass es mit Inspiration nichts zu tun hätte. Man müsse nur Buchstabe an Buchstabe setzen, die Nummer wäre eher wie Fahrradfahren. Ich sage das, weil es gut klingt und wenn es nur einen einzigen Menschen dazu bringt, regelmäßig Gedanken zu verschriftlichen, dann hatte die Lüge schon ihren Sinn. Sie stimmt auf eine gewisse Art auch tatsächlich, aber andererseits sollte man, wenn man auf ein Fahrrad steigt, auch wissen, wo man verdammt noch mal hin will, sonst fährt man schurgerade gegen die nächste Wand, die im Weg rumsteht. Und ich habe in diesen Fällen, um die es hier geht, meistens das ungute Gefühl, meine Umgebung wäre mit ziemlich harten Wänden geradezu gepflastert.

Seltsamerweise fallen die Schreibblockaden immer auf die Phasen in meinem Leben, in denen ich sehr viele Sachen erlebe, fast so, als könnte sich meine Phantasie nur dann wirklich ungehemmt austoben, wenn ich gelangweilt und alleine in einer dunklen Kammer sitze und wochenlang mit niemandem rede. Als meine letzte Blockade mich voll erwischte, hatte ich gerade einen Sack neuer Menschen am Wegesrand gefunden, mit denen ich mich auf verschiedene Arten zu beschäftigen wusste (was insbesondere die junge Dame betraf, die bei einer der Parties meines besten Freundes aus Studienzeiten sturzbetrunken über meine Beine und anschließend direkt in mein Leben gestolpert war), mein Leben streunte also quietschbunt und chaotisch dahin, scheinbar ohne zu wissen, was es genau wollte, und ich hatte mich einfach hineinfallen lassen in diesen Strom aus Dingen, die ohne mein größeres Zutun einfach passierten und trieb dahin. Ich wusste, dass es ein Problem für mich werden könnte, aber ich tat dennoch wochenlang nichts dagegen.

Glücklicherweise vergrabe ich Nüsse. Wenn man ein kreatives Hobby hat und das Ganze mit einer gewissen Ernsthaftigkeit verfolgen will, dann ist es nie ratsam, alles zu veröffentlichen, selbst wenn die Produktivität auf einem der seltenen Hochs ist, an dem das Hirn jeden Tag mehrere Photos, Texte und Bilder auswirft, und man sich fühlt, als wäre der zugehörige Körper nur eine überflüssige und leider notwendige Maschine, die nie richtig gut funktioniert, weil sie alle 24 Stunden gefüttert und für mehrere Stunden abgeschaltet werden muss. Es ist immer ratsam, den eigenen Rhythmus einigermaßen beizubehalten, egal, wie gut es läuft, und alles, was überschüssig ist, zu sammeln. Ich sammle phasenweise massiv viel für schlechte Zeiten und das Ganze hat eine Eigendynamik entwickelt, die groteske Datenberge in unzähligen Ordnern auf meiner alten Festplatte anhäuft mit Dingen, die vielleicht nie jemand zu Gesicht bekommen wird, aber immer in den Zeiten, in denen ich an den Schluckauf denken muss und in denen mir beim Anblick eines leeren Office-Dokumentes schlecht wird, bin ich sehr froh darüber, dass es diese Verzeichnisse gibt. Einig der Sachen verderben im Laufe der Zeit, fühlen sich irgendwie ranzig an, wenn man sie viel später noch einmal betrachtet, und man muss sie entsorgen, aber das meiste davon bleibt erstaunlich frisch. Mal sehen, wie es diesen Zeilen ergeht.


Kausal.

„Nimm das Ding aus dem Mund“, sagte er. „Ratten rauchen keine Zigaretten.“

„Du willst Dir zwanghaft ein Stück von Deiner Realität bewahren, was?“, sagte ich. Ich zog an dem Glimmstängel und blies ihm den Rauch direkt ins Gesicht. Er wich einen Schritt zurück, drehte sich dann um und kotzte auf seine ledernen Cowboystiefel.

„Sorry, ich hab wohl was Falsches gegessen. Wusste nicht, dass Du so ein feines Näschen hast.“

Er wischte sich mit dem Handrücken zuerst einen Rest Kotze vom Mund, dann einige Schweißperlen von der Stirn. Ein undefinierbares Stückchen von dem, das er eben in der falschen Richtung wieder aus seinem Körper befördert hatte, blieb dabei in seinem Haar kleben.

„Was willst Du von mir?“

„Wie kommst Du auf die Idee, dass ich irgendwas von Dir will?“, fragte ich. „Wir sind hier nicht in irgendeiner Geschichte, deren Plot unweigerlich auf ein bestimmtes Ereignis hinausläuft. Du bist hier reingekommen, weil Du ein viel zu neugieriger Bastard bist, und ich sitze einfach hier rum und rauche. Pattsituation, wenn Du es so nennen willst. Du kannst mir glauben, dass mich Deine plötzliche Anwesenheit genau so schockiert wie Dich meine Erscheinung.“

„Ich rede mit einer kettenrauchenden Ratte in menschlicher Größe, die in einem verfickten Schaukelstuhl sitzt“, sagte er und lachte heiser, „und bekomme erzählt, dass ich genau so schockierend bin.“

„Guck mal öfter in den Spiegel“, sagte ich und kicherte fiepend. Ich nahm einen weiteren Zug von der Zigarette, drückte sie dann auf einer weißen Stelle auf meinem Bauch aus (was mit einem Zischen einen leicht süßlichen Geruch von verschmorten Haaren und Fleisch in den kleinen Raum entließ) und sprang Mr. Cowboystiefel mit einem Satz, den er schon aufgrund der schieren Geschwindigkeit meiner Bewegung nicht kommen sehen konnte, an, krallte mich an seinem Pullover fest und nagte blitzschnell sein Gesicht weg. Zu meiner Überraschung wehrte er sich nicht einmal, sondern kippte nur nach einiger Zeit, als ihn eine Ohnmacht davon erlöste, dieses Ereignis bewusst miterleben zu müssen, tonlos auf den Rücken.

Natürlich war es darauf hinausgelaufen. Es lief immer darauf hinaus. Was würden Sie denn denken, wenn Sie mir in dem kleinen Zimmer dieses alten Hauses begegnen würden? Diese Geschichten schreiben sich selbst. Einige sehen einen schwarzen Mann in mir, viele irgendein unförmiges, nicht genau fassbares Wesen mit Krallen und Zähnen, manche, die ganz wenig Phantasie haben, irgendwelche Monstren aus ihren Lieblingsfilmen, aber alle glauben ganz instinktiv, dass ich sie am Ende umbringen werde. Und genau das passiert dann auch. Es gibt einfach keinen Optimismus mehr auf dieser Welt.