NeuRosen (LVI)

Manchmal, wenn ich aus der U-Bahn steige, dann laufe ich an dem stehenden Zug vorbei und blicke den Menschen, die dort sitzen und aus den Fenstern gucken, mitten in die Augen, während ich an ihnen vorbeigehe. Es ist erstaunlich, wie viele Leute sich dabei unwohl zu fühlen scheinen, wenn ich das tue. Wenn ich davon ausgehe, dass dieses Unwohlsein nicht an mir liegt (so gruselig sehe ich hoffentlich nicht aus), dann stellt sich mir unweigerlich die Frage, was dieses Gefühl sonst verursachen könnte. Diejenigen, von denen ich spreche, spielen sich dann plötzlich in den Haaren herum, zupfen ihre Kleider zurecht oder blicken schnell auf ihr Handy, wenn ihr Blick den meinen trifft. Ihre Reaktionen wirken fast so, als fühlten sie sich allein durch den Blickkontakt bei irgendetwas ertappt. Vielleicht beim Mensch sein statt nur Passagier.


Lonely Monkey Islands.

Die Erkenntnis dieses Abends lautet: Unterschätze niemals das Leben, Sebastian. Es hat oft noch diverse Joker in der Hinterhand.


Schwanengesang.

Das draußen liegt sie, die Stadt, in die ich immer wollte. Es ist spätsommerlich warm, man müsste fast darüber schreiben. Ich kam auf den Tag genau nach vier Wochen mit dem Ende des Sommers zurück, und fand die Dinge, die mich hier wieder hingezogen haben, die mich in diesen vier Wochen so kämpfen haben lassen für das, was ich erreichen wollte, nicht mehr vor. Als ich noch eine halbe Stunde entfernt an einem Rastplatz hielt, um Sie anzurufen, war die Welt noch in Ordnung. Ich nehme Sachen so extrem detailliert war und zusätzlich ging alles so extrem schnell, in meiner Erinnerung ist es eher eine Zeitlupe aus einzelnen Bildern, wie ein Film, der nicht richtig abgespielt wird. Ich komme nach Hause, trage meinen schweren Koffer die Treppe in die Wohnung hinauf, die wir gerade eben erst zusammen bezogen haben, Sie wirkt extrem distanziert, ich versuche, Sie zu küssen und Sie dreht sich weg, mein Mund landet auf ihrer Wange. Am nächsten Tag kommt sie mit dem Klischeesatz wir müssen redennach Hause und zur Tür rein, ich höre schon gar nicht mehr richtig zu, das ist mir alles zu billig, ich bin doch Kreativmensch. Als Antwort auf fünfeinhalb Seiten Seelenstriptease schreibt Sie mir später einen pragmatisch-rationalen Brief auf einem einzigen Blatt Papier. Nach mehr als zwei Jahren einfach so in den Müll geworfen zu werden ist nicht jedermanns Sache, aber ich stecke es mit zwei bunten Spätsommerblättern, einem toten Marienkäfer mit spannendem Muster (gelbrot, neun Punkte, asymmetrisch verteilt) und einer frisch gedrehten Zigarette in die Hosentasche, weil so viele meiner Beziehungen so scheitern. Einfach so, explosiv und plötzlich, nach Jahren voller Glück.

„Willst Du mich nicht zum Abschied umarmen?“

Damit fing alles an. In den dunkleren Momenten der letzten Tage wünsche ich mir fast, es wäre damals tatsächlich ein Abschied und kein Anfang gewesen. Sie ist jetzt gerade irgendwo, ich darf mir nicht vorstellen, wo dieses irgendwo sein könnte, unser gemeinsamer Haushalt, behutsam im Verlauf dreier gemeinsamer Wohnungen aufgebaut, steht vor seiner Auflösung, die mir vorzustellen gerade noch ein großes Rätsel für mich ist, in meinem Job komme ich mit den einfachsten Aufgaben schlichtweg nicht zurecht, ich hoffe nur, dass es mir niemand übel nimmt, ich treibe mich mit wildfremden Leuten in dieser Stadt herum, will nur irgendwie möglichst schnell das vergessen, was noch gar nicht wirklich bei mir angekommen ist, ich will aber vor allem Menschen um mich haben. Denn wenn das wirklich bei mir ankommen sollte, dann würde es mich härter treffen als wegzustecken ich momentan in der Lage bin. Some dance to remember, some dance to forget*. Das Leben geht immer weiter, es endet nicht einfach in solchen Situationen, aber man selbst wird immer gefühlloser und gleichgültiger dabei. So was nennt man alt werden, glaube ich. Wichtig ist, dass man sich selbst nicht dabei verliert, so viel habe ich aus den immer wiederkehrenden Ereignissen dieser Art bereits gelernt. Daran, dass ich weiterhin nach dem einen Menschen für mich suche, besteht indes kein Zweifel. Daran, dass ich noch immer daran glaube, dass Sie dieser eine Mensch ist, eigentlich auch nicht. Sie sieht das leider nicht und ich kann es nicht ändern. Ab morgen werde ich versuchen, das Rauchen aufzugeben. Nein, ich werde es nicht versuchen, ich werde es tun. Daran, dass ich mich nicht verlieren werde, besteht Zweifel. Vielleicht bin ich schon dabei, hoffentlich kann ich das aufhalten. Ich liebe das Leben eigentlich über alles und hätte Dir das so gerne gezeigt, wenn Du mir eine Chance dazu gegeben hättest, Schwan. So gerne würde ich mit Dir die halbe Welt becouchsurfen, Schneeballschlachten veranstalten, den Mond von hinten photographieren, am Lagerfeuer mit Freunden tanzen, im Heu neben den Hühnern schlafen, zu Julia nach Berlin fahren, zu Deinem Vater fliegen, Grillparties in der Wohnung schmeißen, im Meer schwimmen gehen, so unfassbar gerne mit Dir nach Kanada in eine Kommune ziehen und irgendwann mit Dir zusammen Lieder darüber schreiben, wenn ich die Zeit habe, die Gitarre endlich richtig spielen zu lernen. Alles dreht sich neu im Kreis, ich werde gerade ein neuer Mensch, ich werde der Mensch, den Du immer wolltest. Der Preis dafür bist paradoxerweise Du. Das Leben hat einen verflucht brutalen Humor.

*The Eagles sind eigentlich scheußlich, muss man dazu sagen, aber der Satz trifft es.


Lorem Ipsum.

Ich griff zum Telefon und informierte die Menschen über das, was passieren würde. Niemand von Ihnen hatte auch nur die geringste Ahnung, dass es schon morgen so weit gewesen wäre. Ich kann mir gar nicht oft genug ausmalen, was passiert wäre, wenn ich diese Menschen nicht informiert hätte über das, was passieren könnte und ich muss zugeben: Je öfter ich es mir ausmale, desto öfter passiert es, dass ich eine diebische Freude bei Vorstellung bekomme, ihre Gesichter  sehen  zu können im Angesicht dessen, was sie erwartet hätte, wenn ich sie nicht in Kenntnis gesetzt hätte. Nun, ich habe sie in Kenntnis gesetzt und selbst wenn ich das nicht getan hätte, dann hätte ich natürlich auch nie ihre Gesichter im Moment ihres eigenen Erkennens gesehen. Das wäre gänzlich unmöglich gewesen, man kann ja nicht an mehreren Orten gleichzeitig sein und diese Menschen wohnen an unterschiedlichen Orten. Selbst um eines der Gesichter zu sehen hätte ich in den entsprechenden Ort reisen müssen, mich vor dem Haus der betreffenden Person verstecken, um dann mit einem technischen Hilfsmittel das Gesicht beim Verlassen desselben zu beobachten, beim Anblick dessen, was passiert wäre, wenn ich nicht eingegriffen hätte. Nun ist das alles aber wie gesagt bereits Schnee von gestern, denn es wird nichts passieren, ich habe sie alle erreicht, es wird keine sehenswerten Gesichter beim Anblick des Ereignisses geben, denn das Ereignis wird nicht stattfinden. Und dennoch: Irgendwie fühlte ich mich danach ein bisschen leer. Schuldig, vielleicht, daran, für diese Leute entschieden zu haben, dass das Nichts dem Erlebnis höhersteht. Ich wählte erneut eine Nummer.


Glückspilz.

In der Umgebung unserer neuen Wohnung wimmelt es von kleinen Häschen und Marienkäfern. Als nächstes regnet es bestimmt Hufeisen – hoffentlich bin ich dann gerade drin.


Instant Poetry (CLIV)

Für immer Kind / und doch nicht ganz unsterblich. †


In eigener Sache: Ausstellung & kurzer Abschied

Ein paar News in eigener Sache gibt es auch in diesem Monat zu vermelden:

In der Ausstellung “Vielfalt digitaler Kunst 2009″ sind seit einigen Tagen und noch bis Ende Oktober erneut einige meiner Werke vertreten. Wer zufällig im Allgäu ist oder dort Urlaub macht, sollte sich diese einzigartige Galerie in einem riesigen alten Haus mitten auf dem Berg nicht entgehen lassen.

Eine schlechte Nachricht gibt es gratis dazu: Ich muss Die Irrlichterkette in den kommenden vier Wochen wohl etwas vernachlässigen bzw. teilweise auch ganz ruhen lassen, da es allerhöchste Zeit wird, meine Abschlussarbeit in Literaturwissenschaft zu schreiben. Leider haben mich bisher X Projekte davon abgehalten, mich richtig auf diesen Berg von Arbeit zu konzentieren, der da vor mir liegt. Das muss sich jetzt dringend ändern. Ich bitte es also zu entschuldigen, wenn hier in nächster Zeit nicht gewohnt viel an Updates kommt. Danach geht es natürlich regulär weiter, hoffentlich auch mit richtig vielen neuen Photos.


NeuRosen (LV)

[Der Selbstzensur zum Opfer gefallen; Anmerkung des Selbstkritikers: Bitte keinen pathetisch-kitschigen Müll posten.]


(Un)Ermüdlich.

Irgendwas glitzerte silbrig, unten im Fluss. Ich stieg den Hang zum Wasser hinunter, müde wie immer, stolperte fast, als sich mein offener Schnürsenkel in einer herausstehenden Wurzel verhedderte und kam schließlich doch unten an. Ohne auch nur einen Moment zu zögern überschritt ich die Grenze zwischen Land und Gewässer und war nach einiger Zeit an der Stelle, an der ich von dort oben den vermeintlich wertvollen Gegenstand die Sonne hatte reflektieren sehen. Aber es gab hier nichts. Kein silberner Spiegel, kein Schmuckkästchen, nicht einmal ein Stück Blech fand sich auf dem Grund des Flusses, dessen Wasserspiegel mir  dort bis knapp über die Knie reichte. Ich begab mich auf dieselben, begann zunächst langsam damit, mit den Händen den Grund abzutasten, wühlte dann immer hektischer. Sand und Steine glitten durch meine Finger, die nach und nach begannen, sich taub anzufühlen. Immer wieder nur Sand und Steine. Zuletzt tauchte ich sogar meinen Kopf in das noch eiskalte Frühlingswasser und versuchte, irgendetwas zu erkennen. Irgendwo hier musste dieser verdammte Schatz doch sein.

„Wie oft denn noch?“ rief die Frau am Ufer und fing an, zu weinen. Der klatschnasse Mann, der sich daraufhin mitten im Fluss zu seiner ganzen Größe aufrichtete und das Wasser aus seinen Haaren schüttelte, guckte ertappt und trottete dann langsam auf sie zu. „Wie oft denn noch?“ wiederholte sie, diesesmal leiser, eher zu sich selbst sprechend. Sie fand ihn mindestens drei mal in jeder Woche so vor. Egal,  zu welcher Jahreszeit und egal, wie kalt das Wasser war. Irgendwann, so war sie sich sicher, würde er sich den Tod holen.

Irgendwann, so war ich mir sicher, würde ich ihn schon finden. Ich sah ihn ziemlich oft, wenn ich da oben auf dem Weg nach Hause ging. Ich müsste mir nur die Stelle besser merken können.


Tiefenstrukturanalyse (XXX)

Das Konzept einer Photosession ist so einfach wie seltsam: Man trifft sich mit völlig fremden oder befreundeten Menschen an unbekannten oder vertrauten Orten und macht ein paar Stunden lang ganz spontane oder im Detail geplante Kunst. Photographie ist mein großes Abenteuer. Und ich habe auch nach Jahren immer wieder Lampenfieber.


Briefing (XX)

Hey Christian von der Firma B.,

ich sollte ja heute wieder zu euch kommen zum Game-Testing. Ich habe es mir spotan anders überlegt, als ich schon auf dem Weg in den Stadtteil war, in dem Euere Firma residiert.

Lass mich das erklären: Als ich das erste Mal bei Euch war, war ich “nur” Student, nicht besonders selbstbewusst, neu in der Stadt, meine eigene Arbeit lief nicht zu meiner Zufriedenheit. Das hat sich inzwischen grundlegend geändert: Ich bin zwar immer noch Student, bin aber in künstlerischer Hinsicht für meine Verhältnisse recht  erfolgreich, blogge regelmäßig, schreibe für zwei Magazine und arbeite nebenbei für eine Werbeagentur. Es klingt sogar in meinen eigenen Ohren zu großkotzig, aber ich habe dennoch das Gefühl, dass meine Meinung mehr wert ist als den Apple und das Ei, dass ich heute von Euch dafür bekommen hätte, um ein oder zwei Stunden meine (und soviel Selbstbewusstsein habe ich, das zu sagen) zweifellos guten Ideen abzugeben für ein Game, mit dem Ihr Tausende von Euros verdienen werdet. Du kennst mich nicht und kannst das daher wohl nicht verstehen, aber als ich zu dieser Erkenntnis kam, habe ich mich unweigerlich gefreut und bin mit einem Grinsen im Gesicht wieder nach Hause gefahren, denn ich habe in dem Moment  festgestellt, dass ich mich nicht unter Wert verkaufe und das ist doch etwas gutes, oder? Ich tue Dinge entweder kostenlos und aus Leidenschaft oder gegen richtige Bezahlung. Dazwischen ist nur in Ausnahmefällen und bei Menschen, die ich persönlich kenne  oder schätze Platz. Und das herauszufinden war es doch schon irgendwie wert, die halbe Strecke zu Euch zu fahren, oder?

Wenn ihr mal längerfristig einen Spieletester sucht oder das Ganze besser vergütet wird, dann können wir  gerne wieder darüber reden.

Bis dahin: Danke für die obige Einsicht.

Dein
Sebastian


In eigener Sache: Alles neu macht der März

Ich habe das ganze Wochenende damit verbracht, meine neue Kamera ausgiebig zu testen und viele Bilder zu machen, aber vor allem auch damit, mir Bildbearbeitung von Grund auf neu beizubringen. Die Techniken und Wege zum erreichen meiner fertigen Photos sind in den letzten zwei Jahren komplett veraltet. Längst haben andere Menschen neue Ideen entwickelt, neue Kombinationen aus Werkzeugen entdeckt, die ich bisher noch nicht kannte. Und im Zuge dieser persönlichen Weiterbildung habe ich auch viele Bilder in meinen Archiven wiederentdeckt, die ich zu dem Zeitpunkt, zu dem sie entstanden sind, für langweilig und aussortierbar, heute aber zum Teil für richtig gelungen halte. Es fühlt sich aufregend neu an, alles. Als ob ich gerade erst begonnen hätte.


NeuRosen (LIV)

Übermorgen treffe ich, vielleicht zum letzten Mal in diesem Leben, das größte Gespenst meiner Vergangenheit.  Und ich habe noch immer keine Idee, ob und was ich zu ihr sagen werde. Ich bin planlos, und planlos zu sein ist eine meiner schlimmsten Ängste. Ich verbinde das Gefühl der Planlosigkeit mit dem Bild von dem blinden Mann, der auf die Welt schießt.