Nanoskop (XXIV)

Traumberuf Schmuckeremit. / Ein Reiter und ein Steigbügelhalter, aber weit und breit kein Pferd. / Einfach mal in Deinem Kopf rumdenken, das wärs. / Kannst Du Dich selbst noch verblüffen? / „Kann ich mitmachen?“ – „Ja, klar.“ – „Jetzt hat es irgendwie seinen Reiz verloren.“ / Träume abgeschminkt. Hilft nicht. Jetzt sind sie hässlicher als zuvor, wollen aber trotzdem wieder mit mir Pläne schmieden. / „Mach Dich nicht lächerlich.“ – „Ich mache mich seit über zwei Jahren für Dich lächerlich, was macht das noch für einen Unterschied?“ / Du bist mein Fisch in der Brandung. / Je größer das Karussell ist, desto perfekter wirkt die Illusion, dass man sich darauf nicht im Kreis dreht, sondern vorwärts bewegt. / „Ich möchte respektiert und geliebt werden. Könnten Sie mich also zu einem völlig normalen, egozentrischen Arschloch therapieren?“ / Hornissennestwärme. / Die Steine sehen alle so gleich aus, dass ich ständig vergesse, welche ich schon umgedreht habe. Sisyphos winkt mir ausm Bus zu.


Tageinaus.

Es ist Dir alles so gleich und eintönig und gerade diese Gleichheit und Eintönigkeit macht es alles so fremd. Du kannst Dich nicht mit ihnen identifizieren, egal, wie sehr Du Dich dazu zu zwingen versuchst. Wie zum Teufel sollst Du je Spaß an diesen Dingen finden, für die sie sich tageinaus aufs Neue begeistern, als wären es die größten Sensationen, die die Welt je gesehen hat, ihre lustigen Bildchen auf Facebook, ihr stumpfes Voyeurfernsehen, ihre öden Gespräche auf noch öderen Parties, ihre Vorliebe dafür, einem Spiel zuzusehen, bei dem völlig fremde Menschen einem Ball hinterherlaufen, ihr Sinn für Humor, der einfach so anders ist als der Deinige und ihre Unfähigkeit, sich aus sich heraus für irgendetwas zu begeistern, für das sich nicht mindestens auch fünf andere Leute in ihrem Umfeld begeistern, so dass sie bloß mitlaufen und keine eigene Anstrengung investieren müssen und so vieles mehr? Du schaffst es vielleicht ein paar Mal, ein Interesse für diese Dinge vorzutäuschen, Dich kurz darauf einzulassen, alles abzuschalten, das sich in Dir wehrt, so zu tun, als wärst Du doch auch einer von ihnen, aber am Ende bleibt es Dir vom Kopf her eine völlig fremde Welt, an der Du nie teilhaben wirst und wenn Du es wagst, das offen zuzugeben, dann beschimpfen sie Dich als arrogant und überheblich und dann bist Du nicht mehr der merkwürdige Typ mit den sonderlichen Interessen, sondern der überhebliche Typ, der sich mit den Sachen nicht zufriedengibt, die doch alle tun und die jeder gut findet, der sich immer nur abgrenzen will und dann wirst Du noch fremder, als Du es bereits bist.

Es ist Dir alles so gleich und eintönig und so setzt Du Dich jeden Abend hin und schreibst über diese Fremdheit, immer in der Hoffnung, dass es da draußen wenigstens einen anderen Menschen gibt, der die Dinge so empfindet wie Du sie empfindest und dass diesen einen Menschen die Flaschenpost erreichen könnte, weil Deine Natur Dich dazu zwingt, andere Menschen zu suchen. Du hasst Deine Natur oft dafür, dass sie Dich zu so einem Mangelwesen gemacht hat, das Trieben und Zwängen unterworfen ist wie ein Tier, das eine Herde suchen muss, die es scheinbar gar nicht gibt und versuchst gegen diese Natur in Dir zu kämpfen, obwohl Du weisst, dass Du nicht gewinnen kannst. Zu anderen Zeiten wieder resignierst Du angesichts dessen, was in Dir ist und was Du nie besiegen kannst, streckst die Waffen und beginnst auch im echten Leben nach Menschen zu suchen, die Dir ähnlich sein könnten. Manchmal glaubst Du dann, eine solche Person gefunden zu haben, die Du tatsächlich mögen könntest, jemanden, der Teil Deiner verlorengegangenen Herde sein könnte, aber dann geht entweder gleich alles schief oder irgendwann viele Jahre später, in denen Du nicht einmal geahnt hast, dass doch irgendetwas nicht stimmt, die Gründe verstehst Du selten richtig, denn Du wolltest dem Anderen ja nie etwas Böses, im Gegenteil hast Du doch Dein ganzes Leben nur nach ihm gesucht.

Es ist Dir alles so gleich und eintönig und so irrst Du weiter und drehst Dich im Laufe der Jahre nur dauernd im Kreis und bevor Du es bemerkst, bist Du selbst gleich und eintönig geworden, nur auf Deine eigene, ganz besondere Art und Weise.


Auf dem Dachboden mit den Sternen

„Zum letzten Mal bist Du alles, was ich will und alles, nach dem ich freiwillig fragen würde. Ich schließe diese Gedanken heute Nacht in einen Schrank, in dem sie nur derjenige finden wird, der dazu in der Lage ist, ihrer Spur ganz gezielt zu folgen. Ich studiere weiterhin ungeborene Kinder und ihre Namen auf Magister. Nichts davon überrascht mich, aber das hält mich nicht davon ab, dem Schmerz weiterhin meine Seele in Schlagrichtung vor die Nase zu halten, als hätte ich nie gelernt, wie man den Schutzschild rauffährt. Ich schreibe, also muss ich frontal gegen Wände fahren. Es ist die wichtigste Droge meines Lebens, die einzige, gegen die ich nicht resistent geworden bin.“


Ping-Pong-Echo.

„Ich darf es nicht in Kommunikation gießen, Kommunikation ist bei mir eine Suchtart“, denkt sie und in dem Moment erfasst die Schwerkraft ihre Pupillen und das Drumherum nicht mehr, so dass je zwei gemischte Paare Iris und Pupille in zwei Augäpfeln an die tiefste Stelle kullern und jetzt durch den transparenten Gaumen auf den Belag ihrer Zunge glotzen, den Schlund sehen sie nicht, denn um um die Ecke zu gucken bräuchte es mindestens ein bisschen Kontrolle über die Blickrichtung. „Ah. Endlich etwas Ruhe“, denkt sie. Die Schlacht ist gewonnen, aber jeder Krieg, der etwas auf sich hält, hat bekanntlich mindestens zwei davon. Und dann ruft sie direkt jemanden an, um ihm davon zu erzählen.

„Spar Dir die Erlebnisberichte“, sagt die Stimme am anderen Ende der Leitung.


Herbstskizze

„Was gibts?“, frage ich.

„Ach, eigentlich nichts. Bist du zu Hause?“

Ich überlege, ob ich lügen soll. „Ja“, antworte ich wahrheitsgemäß. Eventuell hätte sie es sonst auf meinem richtigen Telefon probiert und ich hätte den ganzen Tag nicht rangehen können, ohne mich zu verraten. Nicht, dass ich normalerweise ans Telefon gehen würde. Ich habe, wenn es um meine private Einsiedelei geht, keine Probleme damit, zu lügen. Bei einer Lüge ertappt zu werden ist dann schon wieder etwas anderes.

„Könntest du mich vielleicht um halb vier am Bahnhof abholen, wenn ich ganz unverschämt fragen darf?“

Die direkte Tour. Guter Trick. Es hilft bei solchen Fragen, wenn man die zugehörige Selbsteinschätzung gleich mitliefert. Zumindest bei mir.

Was soll ich darauf antworten? Mir schnell eine Ausrede einfallen lassen? Zu anstrengend, ich bin grade aufgewacht, habe die halbe Nacht gesoffen und an einem Stück Scheiße geschrieben, das niemals ein Roman werden wird. Ein Fragment, sozusagen. Irgendwie schreibe ich nur Fragmente.

„Klar. Ich bin da“, antworte ich in einem Ton, der darauf hinweisen soll, dass es mich stört, wenn man mir die Bedingungen diktiert, nach denen ich meine nie vorhandene Zeit zu verbringen habe.

Auf Bahnhöfen auf jemanden zu warten ist eigentlich ein richtig tolles Konzept dieser merkwürdigen Realität. Noch dazu, wenn es Herbst ist. Vielleicht fällt mir deswegen keine Lüge ein. In meiner Phantasie haben die Züge nur wegen der Leute Verspätung, die gerne im Herbst auf Bahnhöfen warten. Vielleicht sind das in Wirklichkeit mehr als man glaubt.

„Super, danke“, sagt sie.

„Kein Problem“, sage ich.

Es ist fast halb drei. Ich fahre besser gleich los. Vielleicht weiß der Zugführer gar nichts von diesen Leuten. Vielleicht ist er neu im Geschäft.


Nanoskop (XXIII)

Selbstbildnis als nicht eingelöster Treuepunkt. / „Ich gehe nur deswegen mitten in der Nacht auf die Strasse, um anderen Katzen zu begegnen.“ / In der falschen Zeit geboren. Problem: Das Jahrzehnt, in dem ich gerne gelebt hätte, gab es leider nie. / Eben mit McLuhan telephoniert. Soll euch ausrichten: Ihr habt alles falsch verstanden. / Selbstbildnis als jemand, der zwei Therapien gleichzeitig macht und in der einen jeweils von der anderen erzählt. / Verdacht: Mutter Natur betrügt Vater Staat mit dem Mann im Mond. / Der verstörende Aspekt an Buchhandlungen: Wie viele Menschen es gibt, die ihr Leben damit verbringen, schlechte Romane zu schreiben. / „Tanz mit mir.“ – „Es spielt keine Musik.“ – „Das ist egal, wir machen sie selbst.“ / Im Internet merkt niemand, dass Du für guten Geschmack kämpfst. / „Ich ziehe meine Leere daraus.“


Traumsequenzen (X)

Neuartige Turngeräte aus lebenden Giraffen. Ich nehme zwei davon mit und benutze sie in der U-Bahnstation, vor mir ein Hut, um Geld für die Weiterentwicklung des Konzepts zu sammeln. Ich arbeite für eine Firma, die derartige Dinge herstellt. Niemand schenkt dem Treiben irgendeine Beachtung, der Trick hat sich schon abgenutzt. Die Tiere müssen sich bücken, damit hier reinpassen und die Rolltreppe ist jedesmal das größte Hindernis.

Später: Ich werde damit beauftragt, ein neues Grab für Salvador Dalí zu entwerfen. Meine Idee ist eine von Pflanzen überwucherte, schwere Holztür in einem ebensolchen Rahmen, die einfach so in der Gegend steht. Die Tür hat ein Klingelschild mit goldenen Knöpfen, statt Namen stehen dort die unterschiedlichen Tätigkeitsfelder des Toten. Über dem Klingelschild ist eine Gegensprechanlage angebracht.

Eine alte Bekannte nimmt meine Hand und legt sie zwischen ihre Beine. „Mach Dich mal nützlich, statt immer nur dieses merkwürdige Zeug“, sagt sie.

Ich irre durch die Stadt und versuche, zur richtigen U-Bahnstation zu gelangen. Es gelingt mir nicht, ich kann die Karten plötzlich wieder genauso schlecht lesen wie in meinen ersten Wochen in der Großstadt, in der ich Menschenangst als Grund dafür vorgeschoben habe, dass ich niemals mit der Bahn fuhr. Ich weiß nicht warum, aber ich habe plötzlich Blut an der Unterlippe und dann fallen alle meine Zähne in meinen Mund. Ich spucke sie in meine Handfläche und starre den blutigen Haufen an. „Ha, da kann sich die Krankenkasse aber nicht wieder rausreden, dieses Mal müssen sie zahlen“, denke ich und lächle zahnlos.


Nanoskop (XXII)

Mein Gehirn ist meine heterogenste Zone. / Die drei !!! und das Mysterium 11einself. / Quotenumlaute in der Rockmusik (zb. Motörhead, Mötley Crüe, Drä Chänäsän mät däm Känträbäss). / „Nein Danke, ich höre nur gute Musik.“ / Stichwort: Schnittmenge. / Hohe Wahrscheinlichkeit, dass ich es mag: „Nur Krach!“ (Musik) „Kann mein Sohn auch malen!“ (Kunst) „Das hat ja gar keine Handlung!“ (Literatur) / Es wäre mir sehr wichtig, dass Du etwas mehr auf Deine innere Erscheinung achtest. / Lasse für meine Mitmenschen oft und gerne Dinge übrig, zb. „zu wünschen“. / Herr Struktur erkennt das Muster: Fräulein Diskrepanz findet immer wieder Unterschiede. / Gäbe es Menschen, die so sind wie ich bin, dann wäre ich wohl nicht so, wie ich bin. / Meine Lieblingsbücher: Außen aus schwarzem Leder, innen dezent liniert. / Achtlose Trippelschritte Richtung Einfalt.


Kaskade 5-6

Es war nicht so wie in meiner Vorstellung. In meiner Vorstellung sind diese Dinge viel größer. Das ist ein Grund dafür, warum ich dort so viel Zeit verbringe. Sie sucht ein Kajak für Berlin, hat sie gesagt, auf der Spree paddeln, natürlich. Anderswo giften sich fremde Menschen gegenseitig in Texten an, die ewige Droge heißt Zynismus, weil man unbedingt dabeisein muss, Präsenz zeigen, sehen und gesehen werden, aber bloß nicht zugeben, dass es einem doch heimlich Spaß macht oder dass man es grundabstoßend findet, man will ja nicht so sein. Du hast nie gelernt, ehrlich zu sein. Du schwimmst nur in der Mitte, weil es dort den meisten Applaus zu holen gibt. Asoziale TV-Sendungen gucken und in Echtzeit darüber Spott in Netzwerke kippen gilt als en vouge. „Ich mach irgendwas mit Medien. Den ganzen Tag lang, weil ich kein Leben habe.“ Eigentlich bräuchte ich nur ein verdammtes Lagerfeuer, eine Blockhütte im Wald und eine handvoll Menschen als Geiseln. In diesem avantgardistischen Schwarzweißfilm, der so wirkt, als wäre er mit dem Kameramodul eines alten Game Boys gedreht worden, zieht sich jemand die Haut vom Gesicht und lacht dabei. Nach einer Woche in Schweden wäre das Stockholm Syndrom abgeklungen, das nicht von der Entführungssituation verursacht wurde, sondern von dem Zustand im Jetzt. Vom äußerlichen Anschein her liebenswert, in der Realität eine Bestie. Gibt es jemanden, vor den Du Dich stellen und ohne auch nur ansatzweise mit dem Gehirn zu zucken „Ich liebe Dich“ sagen könntest? Nein, wir reden hier nicht vom Verliebtsein und den Schmetterlingen, sondern von der echten Nummer, die nicht erst wächst, wenn man sich irgendwann so arrangiert hat, dass man sich gegenseitig grade so ertragen kann, sondern die einfach ist, die nichts fordert und wie das natürlichste Ding auf der Welt einfach bestehen bleibt, egal, was der andere tut. Gibt es so jemanden? Wenn ja, dann schätze Dich glücklich, egal, was er oder sie antworten würde. Du hast noch etwas von dem in Dir, das ich suche.


Nanoskop (XXI)

Die Rückgratlosigkeit ist eine der entscheidendsten Voraussetzungen für den Erfolg beim Bullshit-Limbo. / Abwarten und Wattwandern. / Der Graf und die sieben Bürgen. Eine tödliche Romanze. / Hirnschmalzbrotschneidemaschine. / Im Prinzip ist es egal, ob die Plattform Schlagerparty in der Dorfdisco oder Internet heißt, ihr bleibt immer Rudeltiere. / Ich krieg so wenig Schlaf, dass ich das Träumen tagsüber erledigen muss. / Selbstbildnis als unlesbares Manuskript aus dem Nachlass von Jane Doe. / „Ich kann auch ohne Menschen unglücklich sein!“ / Der Satz „Die Akteure sind der springende Punkt“ gilt ausschließlich beim Flohzirkus. / Ich will das mit Dir teilen, was ich alleine gar nicht habe. / Wir kamen überpunktlich beim Yoga an. Ich nahm die Beine in die Hand. / Beziehungsstatus: Texte, die nicht von Rainer Maria Rilke verfasst wurden, braucht eigentlich niemand. / Ungeschriebenes Gesetz:


Eins: Hier.

Wenn ich zurückblicke auf die merkwürdige Kette von Menschen, die in den verschiedenen Leben, die ich bisher leben durfte, durch meine Tage gerauscht sind, ohne nennenswerte Eindrücke oder größere Dellen an meiner Persönlichkeit zu hinterlassen, dann verstehe ich eigentlich noch weniger, was eigentlich an dieser Frau anders war. Ja, sie war wunderschön, kompliziert und nicht ganz richtig im Kopf, aber das waren viele, die ich in mein Leben und nach einiger Zeit wieder verschwinden habe lassen. Ich habe sie alle immer relativ schnell ersetzt durch neue Gesichter, die ganze Nummer war eher ein Spiel für mich, denn Menschen waren aus meiner Perspektive grundsätzlich sehr einfach gestrickte Geschöpfe, niemals etwas, das es zu bewahren galt. Sie machen langweilige Dinge, leben ihre langweiligen Leben, sammeln virtuelle Dinge wie Reputation, „Spaß“ und Erlebnisse, materielle Dinge wie Wohnungseinrichtungen und Wertgegenstände, und irgendwo dazwischen sammeln sie, genau wie ich selbst es tat, auch andere Menschen, idealerweise solche, die in beide Kategorien fallen, also sowohl bei der Vorführung vor Verwandten und Freunden Neid hervorrufen, wie ein paar neue, teuere Schuhe, als auch möglichst viele Erlebnisse versprechen und eigenes Wohlbefinden durch entsprechendes Begehren oder gefühlte Übereinstimmung von Ansichten stimulieren. So weit, so belanglos.

Ich kann heute nicht mehr mit Bestimmtheit sagen, was damals passiert ist, als ich sie traf, was sich im Laufe der dann folgenden Zeit geändert hat, natürlich habe ich meine Theorien dazu, was ich aber mit Bestimmtheit weiß, ist, dass sie irgendetwas sehr Altes mir kaputtgeschlagen hat mit ihren Worten und Taten, dass wir es dann zusammen gänzlich kleinhackten mit der Art und Weise, wie wir interagierten, etwas, das danach nicht mehr aufzukehren und zusammenzusetzen war, auch wenn ich das sehr oft versucht und mir an den Scherben immer wieder blutige Hände geholt habe. Vermutlich nennt man das, was mir mit diesem Menschen widerfahren ist, Liebe – und obwohl ich das Wort vorher schon oft benutzt und das Gefühl zu kennen geglaubt habe, merke ich erst jetzt, was es eigentlich bedeutet, einen Menschen mit jeder Faser meines Körpers zu lieben. Und das bedeutet bei Weitem nicht nur etwas Gutes. Es bedeutet auch, dass man akzeptieren muss, dass dieses Gefühl nie wieder verschwinden wird, so grotesk widerwärtig der andere einen in einer möglichen Zukunft auch behandeln mag. Menschen sind, obwohl wir am Ende alle das Schicksal teilen, irgendwo unter der Erde rumzuliegen und uns unter tatkräftiger Mithilfe von diversem Getier selbiger anzugleichen, Zeit ihres Lebens von sich selbst besessene Monstren, machen wir uns nichts vor, aber Liebe ist der Moment, in dem man es einem Einzelnen von ihnen verzeihen kann. Sie ist vielleicht eines der wenigen Dinge, die einem nie mehr weggenommen werden können, weil sie ganz tief im Selbst heranwächst, absolut unausrottbar und vermutlich so lange vorhanden, bis man irgendwo in einem Altersheim, sich selbst in die Windeln scheißend, das Gesicht der Person, für die man so fühlt, langsam vergisst. Vielleicht aber vergisst man diese Emotion nicht mal dann. Man muss dankbar dafür sein, sie erleben zu dürfen. Sie ist vermutlich selten.


Nanoskop (XX)

Ich lebe so schnell, dass die nostalgischen Erinnerungen direkt einsetzen, nachdem ich jemanden zum ersten Mal getroffen habe. / World of Schwerkraft (Aufstehphysik) / Kann mal bitte jemand das Wort „Paraphrase“ umschreiben? / Sechsfüßiger Heptameter mit Phantomschmerzen. / „Todessehnsucht und riesige Angst zu sterben gleichzeitig zu haben, das schaffen nur die Guten.“ / Trendthema denglische Beleidigungen. Heute: „Completely Ringelnatz.“ / Feedbackkanalisation. / Gedankenblitz: Ich gehe zur Therapie und spiele dort Dich, nur um herauszufinden, was mit Dir nicht stimmt. / „Ich würde mich gerne dumm operieren lassen, damit ich besser mit meinen Mitmenschen auskomme.“ – „Häh?“ – „Genau.“ / Mein Leben lang dem roten Faden gefolgt. Stehe plötzlich vor einem halben Wollknäuel und weiß nicht weiter. / Hände, Redensarten, Wortaccessoire: Buntgeknutscht und Ukulelenlied. / In der Luft hängend. Über Treibsand.


Kleines Shitstormlexikon für Einsteiger.

Professioneller Shitstormstarter.

Mensch vom Typ empörter Blogger aus dem Großthemenbereich Internet und Gesellschaft. Ist drei bis viermal pro Tag “völlig sprachlos und entsetzt” über kleinere Nichtigkeiten und verlinkt diese tatkräftig, immer in der Hoffnung, dass die Retweets seiner Anhänger sich zu einem echten Shitstorm ausweiten und ihm noch mehr ergebene Fans bringen, die ihn irgendwann in der Zukunft als einflussreichen Internetaktivisten oder investigativen Journalisten feiern, so dass er in den alten Medien, die er eigentlich massiv ablehnt und zum Sterben verurteilt sieht, neben Politikern sitzen und das Netz erklären darf. Der professionelle Shitstormstarter lebt von der Aufmerksamkeit seiner Zuleser. Damit ihm diese gewogen bleibt, ist er dazu verdammt, permanent nach der nächsten Sau zu suchen, die durchs Dorf getrieben werden kann, was ihn dazu zwingt, jede kleinste Meldung und Nichtmeldung, die er irgendwo verlinkt sieht, auf eventuell vorhandenes rassistisches, antifemininistisches, fortschrittsfeindliches, und politisch unkorrektes Empörpotential abzuklopfen.

Mitläufer.

Hat meist nur ein paar hundert Follower auf Twitter und selbst nicht viel zu sagen, tritt mit Anzug-Profilbild und Echtnamen auf, weil ihm teuere Social Media-Experten im Fortbildungs-Seminar erklärt haben, dass man den meisten Erfolg in Sachen Personal Brand Building hat, wenn man authentisch rüberkommt. Eine Meinung abseits des Mainstreams ist ihm fremd, er hinterfragt grundsätzlich nur selten Dinge und ist damit der perfekte Motor jedes guten Shitstorms. Der Mitläufer retweetet die Empörung des professionellen Shitstormstarters mit Freude, weil er glaubt, dadurch ein kleines Stückchen dessen vermeintlichen Glanzes und Ruhms abhaben zu können. Darüber hinaus zählt für ihn vor allem der interaktive und mit nur einem einzigen Klick zu bewerkstelligende Event- und Protestcharackter eines Shitstorms, schließlich war er selbst ganz vorne mit dabei, damals, als (irgendwas mit einem Sack Reis).

Trittbrettblogger.

Erscheint erst dann auf der Bühne, wenn das Unwetter schon in vollem Gange ist. Wartet geschickt ab, bis sich der Shitstorm zu durchschlagender Wucht formiert hat, aber schon knapp vor den Peak ist, um dann seinen bereits vorformulierten und keywordoptimierten Artikel zum Thema zu publizieren, vor dem geistigen Auge die in die Höhe schnellenden Trafficstatistiken, die er sich davon für sein kleines Blog erhofft, in dem er selten eigene Akzente setzt, das aber SEO-technisch perfekt aufgestellt ist und ihm daher jeden Monat ein paar Kröten über Google Ads einbringt. Hat er seinen Artikel veröffentlicht, schießt er ihn mit den nötigen Hashtags versehen mitten in den Shitstorm, dem er damit im Idealfall für ein paar Stunden noch einmal neues Leben einhaucht. Am nächsten Tag formuliert der Trittbrettblogger oft ganz stolz einen Nachfolgeartikel darüber, wie sein Server aufgrund der vielen Zugriffe fast durchglühte, den aber dann meist nur noch ein paar verirrte Spambots lesen und kommentieren.

Medienbegleitung.

Meist etwas später am Start als der Trittbrettblogger, ebenfalls motiviert von der Erkenntnis, dass sich mit Shitstorms massiv viele Leser auf die eigenen Präsenzen locken lassen, die in ihrem Wutrausch scharf darauf sind, sich noch weiter hochzujazzen. Typische Vertreter der Medienshitstormbegleitung wie Spiegel- oder Welt Online beschäftigen ausgewiesene Digital Natives, die im Auftrag des seriösen Journalismus noch einmal ausführlich ausrollen dürfen, worüber sich das Internet echauffierte und dafür von den in der Regel etwas weniger empörungsfreudigen Lesern der dazu gehörenden Printausgabe für die Belanglosigkeit ihrer Artikel in den Kommentaren nicht selten eins bis drei auf die Mütze bekommen. Das macht der Medienbegleitung aber nichts aus, denn Erfolg misst sich in ihren Metier grundsätzlich in Klicks und Reaktionen, egal welcher Art. Im Idealfall kann ein typischer Shitstorm durch die Medienbegleitung sogar in einer Klickstrecke (“die lustigsten Tweets zum Thema”) untergebracht werden, das erhöht zusätzlich die Anzahl der Impressions.

Schnelllebigkeit.

Erkennungsmerkmal jedes guten Shitstorms. Wer nicht direkt im Moment der Welle auf Twitter abhängt oder Admin der getrollten Präsenz ist, wird in der Regel von einem Shitstorm so gut wie nichts mitbekommen (es sei denn in Powerpoint-Slides von PR-Menschen mit Titeln wie “Die schlimmsten Internetpannen von Unternehmen”), denn nach 24 Stunden ist er in der Regel sogar von den Shitstormern selbst längst wieder vergessen. Versuche, ein paar Tage nach dem Shitstorm den oft natürlich nicht behobenen Missstand im Kern noch einmal detailliert zu betrachten oder sich nachhaltig mit dem zu Grunde liegenden Problem auseinandersetzen, ernten in fast allen Fällen nur ein müdes Gähnen oder verwirrte Blicke.

Paradoxe Beweismittelstreuung.

Essentielles und paradoxes Ritual jedes Shitstorm. Das möglichst breite Streuen des “schockierenden Beweismaterials” dient dabei gleichzeitig zur Legitimation der Empörung wie auch zu deren Erzeugung. Sollte das Video, gegen das man lautstark angeht, weil es zum Beispiel unter Gewaltverherrlichungsverdacht steht und vor dem Shitstorm drei Klicks hatte, vom Ersteller aufgrund der vielen erbosten Kommentare gelöscht werden, findet sich in einem guten Shitstorm immer jemand, der es auf sieben anderen Accounts wieder hochlädt, damit sich die Gemeinde in Ruhe weiter darüber aufregen kann, wie schlimm das Ganze ist und dass soetwas wirklich nicht in die Öffentlichkeit gehört. In ähnlicher Manier werden Artikel aus Lokal- oder Special-Interest-Publikationen auf Papier, die eigentlich keiner liest, eingescannt und auf alle Kanäle verteilt. Damit erzeugt jeder Shitstorm sein überdreht keifendes Publikum während des Akts der Empörung selbst, oder klagt, anders ausgedrückt, über den umfallenden Sack Reis, der niemanden interessiert hätte, hätte er ihn nicht selbst unter sich wiederholenden, lautstarken “Skandal”-Rufen umgeworfen.

Doppelmoral.

Dringend notwendiges geistiges Utensil zur begeisterten Teilnahme an Shitstorms, das bewerkstelligt, dass man die Mohammed-Karikaturen mit der Bombe als Turban mutig und provokativ finden kann, aber bei einem Werbespot, der mit Mann-Frau-Klischees spielt, einen Hals bekommt. Analog kann man mittels des für Shitstorms aller Art sehr hilfreichen Werkzeugs Doppelmoral gegen Copyright sein, und trotzdem komplett ausflippen, wenn einem ein Tweet geklaut wird oder total für Meinungsfreiheit im Netz und gegen Zensur sein, aber die Leute aufhetzen, wenn jemand einen Artikel schreibt, der nicht mit der Mainstreammeinung einhergeht und dann begeistert darüber twittern, wenn dessen Webseite vom wildgewordenen Mob gehackt wird.