Wort für Wort (LVI)

„Ich interessiere mich nicht für Geld oder Macht.“ – „Häh? Was bleibt denn dann noch?“ – „In Deiner Welt nur Nutten und Schnaps.“


Wort für Wort (LVI)

„Hey, guck mal: Ein Zweihorn!“ – „Man nennt es auch Kuh.“ – „Wann bist Du eigentlich so destruktiv geworden?“


Metareflexion, yeah! (XXXVIII)

Etwas ist verloren gegangen und das allumfassende man findet es nicht wieder. Nicht in der lichtumspülten Geschwätzigkeit des Tages und nicht in der tonkargen, kurzen Blickdistanz einer Nacht ohne Straßenlaternen, in der es zuallererst zu finden war. Auf einer Landstraße sprang die Magie in einem kurzen, metaphysischen Augenblick aus der Imagination in die Realität, aber das ist Jahre her und seitdem zeigt sie sich immer seltener, neuerdings scheint sie gänzlich vertilgt von der Ödnis des parataktischen Lebens, das Du und Ich unabhängig voneinander zu führen beschlossen haben. Sieben Minuten Zähneputzen jeden Tag, dazwischen mit einzelnen, inhaltsleeren Worten beschreibbare Erlebnisse, an der Grenze zur Sprachlosigkeit aufgrund der Scham, die mit ihrem Ausspruch Hand in Hand geht. Es sind Anti-Zaubersprüche, die wir auf die Frage „Und was machst Du so?“ zu äußern gezwungen sind, wenn wir nicht lügen wollen. Was ist hier passiert? Das, was immer passiert: Die Gewohnheit.


re:publica 2010: „Kreisbewegungen, oder?“

Zwei Mal wagte ich am gestrigen Tag den Versuch, einen „ernsthaften“ Artikel über die re:publica 2010 in die Tastatur zu hacken, ich wollte diesen bunten, wilden Social Media-Gemischtwarenladen an drei Locations mit neun Veranstaltungsräumen, zig Workshops, Seminaren und Vorträgen und 2500 Besuchern mitten in Berlin, dieses Internet mit echten Menschen aus distanzierter, journalistischer Perspektive betrachten. Ich musste daran scheitern: Allzu schnell bemerkte ich, dass ich, egal, was ich schreibe, der Veranstaltung damit genau so wenig gerecht werde wie alle diese ignoranten Artikel über die „Bloggerkonferenz“, die in den letzten Tagen in allen großen Holzmedien erschienen sind. Nein, sie war nicht hochgradig selbstreferentiell, diese re:publica, sie war aber auch nicht sonderlich visionär. Sie war nicht mit ausschließlich hochwertigen Veranstaltungen gespickt, aber auch nicht mit schlechtem Inhalt übersät. Sie ist kein Vorbote einer Zersplitterung der Netzkultur, aber wirkliche Schnittmengen gibt es zwischen Teilen der Twitteria (ich meine damit sicher nicht die Leute, die nebenbei auch ein bisschen ihre Links über die Seite schicken, sondern eher diejenigen, die am späteren Abend Twitter mit StudiVZ verwechseln und darüber schreiben, wer gut auf der Tanzfläche aussieht) und netzwerkenden Social Media Beratern in vielen Fällen tatsächlich nicht mehr.

Ein Brain-Stream, stattdessen: „Content is King“, Du sollst Deine Besucher wertschätzen, Realsatire pur im Vortrag „Blogs monetarisieren“. Extrem flache Tipps und Kniffe, mit denen man angeblich mehrere tausend Euro monatlich beim Bloggen verdienen kann, treffen amerikanische Fernsehprediger-Mentalität mit ein bisschen billiger Comedy. Den Leuten gefällt es. Die Menge johlt auch dem Wikileaks-Mann zu, der ein paar Powerpoint-Folien abliest, die erzählen, was sein Unternehmen so macht und der anschließend eine halbe Stunde lang Beispiele eben dafür auflistet. „Hätte ich bei Wikipedia detaillierter selbst nachlesen können“, denke ich, da twittern schon die Ersten über angebliche Standing Ovations. Dabei sind von einigen hundert Zuhörern nur drei oder vier Leute in der ersten Reihe aufgestanden, und die klatschen eher für das Projekt an sich, nicht für den Vortrag, jede Wette. Ein Hattrick macht das locker wett: Der halbe Popstar Jeff J. ruft das Zeitalter der Post-Privacy aus und erklärt anschaulich, warum er der Meinung ist, dass es nur positive Effekte haben kann, so öffentlich wie möglich zu agieren. Anschließend geht er, zur Untermauerung seiner These, mit ein paar Besuchern der #rp10 tatsächlich in die Sauna. Nackt sind wir alle gleich, das ist die Botschaft. Und ich hielt die Ankündigung in der Rede noch für einen Witz. Was hingegen passiert, wenn die Öffentlichkeit ein paar öffentliche Sachen nicht so toll findet, und wie man die dann unvermeidlichen Trolle unter Kontrolle hält, erläutert später Sascha L. in einer unterhaltsamen, selbstironischen und dennoch tiefsinnigen Rede, die mit „How To Survive A Shitstorm“ betitelt ist. Spannende These: Irgendwann, wenn sie ausufert, dann wird die Schlammschlacht gar zur Anti-Kritik, in der der eigentliche Kern der Kritik hinter einem braunen Trolltornado verschwimmt. Dazwischen das absolute Highlight: Prof. Dr. Peter K. referiert über zwei Gruppen von Heavy-Netzusern, die sich gar nicht verstehen können, weil sie mit anderen Bewertungen auf gleiche Dinge blicken, am nächsten Tag falsch wiedergegeben („Internetversteher vs. Nicht-Versteher“) von den meisten Zeitungen, die möglichst schnell Artikel darüber in die Online-Ausgaben bringen müssen.

Slow Media geht anders, nämlich mit Qualität und Hingabe. Der Vortrag dazu ist allerdings so überfüllt, dass ich den Versuch entnervt aufgebe, dort tiefere Information zu erhaschen und mich wieder in den Hof begebe, wo die Digital Natives sich beim Plausch seit Tagen gegenseitig Honig um den Mund schmieren. Wir verteilen für den 13. Stock die ganze Zeit an diverse Leute WanderCamp-Buttons, ich verstecke ein paar wenige Zettelgedichte auf den Toiletten. Im Vorbeigehen sehe ich vor der Kalkscheune ein paar rauchende alte Männer mit Poken, den Internet-Tamagotchis von 2008, herumspielen, die über die junge Netzgeneration schimpfen, die angeblich nichts selbst aufbaut und nur die vorhandenen Ami-Netze nutzt, und schäme mich fremd, denke aber gleichzeitig unwillkürlich darüber nach, ob das uns in ein paar Jahren auch so gehen wird. Wird man uns irgendwann auch auslachen, weil wir uns permanent im Netz mit dem Netz beschäftigen, aber alle anderen es bereits als ganz natürlichen Lebensraum entdeckt haben, über den man eigentlich gar nicht mehr wirklich reflektieren muss? Content is doch King, weißte. Aber wenn der Content nur aus Metacontent besteht, dann wird es irgendwann eng, sinniere ich in meine Kopfnotizapp, als sich plötzlich Robert B. neben mich setzt. Dem schreibe ich oft böse Kommentare in sein Blog und habe ihn als Freund gelöscht, als er seine Follower verkaufen wollte, er lädt mich trotzdem zu einer Zigarette ein. Überhaupt: Geeignet für deluxes Namedropping, so eine Veranstaltung: Der genannte und grundsympathische Sascha L. überredet mich und eine alte Freundin dazu, mit auf die Party am ersten Tag zu kommen, als ich eigentlich schon nach Hause fahren will, ich sehe ständig Mario S. mit seiner alten Kamera (die in Wahrheit modernste Technik ist) herumstreunen, kettenrauchen und Bilder machen. Irgendwann überwinde ich mich und wechsle sogar Worte mit ihm. Hauptorganisator Johnny H. ist sowieso der netteste Mensch der Welt, wie ich feststelle.

Anderswann sitzt irgendwo in der Nähe in einem Cafe (nein, nicht das Oberholz, ich vermeide diesen Klischeeort aus Gründen) @silenttiffy und wartet auf mich. „Eiere durch Berlin wie ein sich selbst ausgesetzt habender Hund“, schreibt sie, als ich im Stechschritt zur S-Bahn eile, mein iPhone permanent in der Hand, busy wie ich hier bin. Ich bin anschließend heilfroh drüber, dass ich für ein paar Stunden raus aus dem überdrehten Zirkus in der Friedrichstraße bin, schimpfe über das Programm, um herauszufinden, was meine eigentliche Meinung zu dem Ganzen ist, fühle mich inzwischen durch die Tonnen von Eindrücken psychisch derangierter als nach der Knüppelnacht auf dem With Full Force und habe Menschen gesehen, denen ich Nachts nicht auf Facebook begegnen will. Und trotzdem: Ein paar Sachen und diverse Begegnungen waren wirklich gut, stelle ich schließlich fest, als mich mein eigener Rant nicht komplett von der Sinnlosigkeit der Sache überzeugen kann. Nicht das Zeug, das wirkte, als würden die Redner eigentlich Unireferate halten und nur von Zetteln ablesen. Davon war einiges vorhanden, ich erspare mir, es aufzulisten. In der Vorlesung „Sex And The Internet“ gucken tausend Leute über Chatroulette einem Typen beim Onanieren zu (ich gebe zu, ich habe kurz überlegt, hier jemanden reinzulinken), der ziemlich schnell die Hand auf der Next-Taste statt am Geschlechtsteil hat, als er bei einer Drehung des Macbooks und einem ihm frenetisch applaudierenden Publikum bemerkt, dass er zufällig in eine sehr bizarre Situation hineingeraten ist. Gutes Nerd-Entertainment. Als mir irgendwann Nachts im Hof nach einigen Gläsern Bier Stefan N. über den Weg läuft, sage ich ihm, dass er auf sich aufpassen soll, denn das Internet brauche ihn noch. Finde ich wirklich. Biz S., den Johnny H. über Skype zum Videochat anrufen will, geht hingegen erst gar nicht dran, obwohl ein paar hundert Leute hier mit ihm verabredet waren. Macht nichts, wir singen einfach alle zum Abschluss zusammen Karaoke, Videos gibt es schon längst auf YouTube, is klar. Ich rede in den drei Tagen außerdem mit vierhundertzweiundfünfzig anderen Menschen, wenn auch meist nicht mehr als einige Sätze. Nicht übel für jemanden, der auf seine alten Mailadresse immer noch in regelmäßigen Abständen Post von einer Sozialphobiker-Selbsthilfegruppe bekommt, oder?

Das doppelte re:publica-Paradox: „Für eine Arbeitslosenveranstaltung haben die hier ziemlich viel Ahnung von EDV“, twittert der @dikator auf einen Zettel und gewinnt damit den Offlinetweetcontest. Ganz unterschreiben kann man das aber dann doch nicht, denn zum Twittern muss man bei der #rp10 vor die Tür, 2000 mobile Geräte wollten zur Spitze gleichzeitig online gehen, erzählt man mir (halte die Zahl übrigens für eine Übertreibung), das macht kein Wlan mit. Deswegen gibt es an dem Ort, an dem sich das ganze deutsche Internet in Person versammelt hat, auch die meiste Zeit keinerlei stabiles Netz. Eigentlich sehr passend, denke ich.


re:publica 2010.

Morgen früh geht die Reise zum Superduperintnetzfestival nach Berlin, ich habe extra die Silberornamente an den Kutschen auf Hochglanz polieren lassen. Falls ich in den nächsten Tagen zum Bloggen komme, dann eher drüben @13stock. Bitte passt inzwischen gut auf mein Blog auf, ich will keine Klagen hören. Im Archiv gibt es genug zu lesen, ich frage nachher ab. Bis dann.


Wort für Wort (LV)

„Du tanzt auf den Gipfeln der Absurdität.“ – „Dort verliere ich nie die Bodenhaftung.“


Von Felsen und Fischen.

Draußen regnete es tote Katzen, drinnen saßen wir vor der modernen Version der Schreibmaschine und begannen, während wir versuchten, gemeinsam einen Text zu verfassen, damit, unseren eigenen Entscheidungen noch weniger zu vertrauen als den leeren Verlockungen der Nostalgie bei den für das Schreiben leider notwendigen Gedanken an die Gespenster der Vergangenheit. Es schien auf eine Grundsatzdiskussion hinauszulaufen. Ich mochte Grundsatzdiskussionen. „Er hing mitten in der Luft und beschloss, dort Wurzeln zu schlagen. Es entsprach seinem Gemüth“, schrieb sie. Sie schrieb das Wort immer so uraltmodisch. Man musste sie dafür einfach lieben.

„Wenigstens treffen wir neuerdings unsere eigenen Entscheidungen und lassen und nicht mehr einfach vom Leben kidnappen, das solltest Du wertschätzen“, sagte ich. „Das haben wir viel zu lange gemacht, oder? Ich erinnere mich an eine Zeit, in der wir betrunken auf Sommerparties gingen, dann ein bisschen blöd guckten, uns treiben ließen und in Situationen gerieten, die viel zu viel mit uns gemacht haben, viel zu viel, das wir einfach zugelassen haben, ohne jemals  auch nur eine Sekunde lang darüber zu reflektieren, ob es wirklich das Richtige war. Erinnerst Du Dich an die Sache mit diesem Jura-Studenten? Ich dachte lange, das wäre das Ende von uns.“

Sie guckte nachdenklich auf den Satz, den sie geschrieben hatte. „Vielleicht ist es eher wie mit dem Stein“, sagte sie.

„Stein?“

„Dem Fels in der Brandung! Das sagt man doch so. Früher waren wir Kieselsteine in der Brandung. Wir wurden einfach fortgeschwemmt von dem, was passiert ist. Aber dann sind wir älter geworden und gewachsen und jetzt sind wir Felsen“, sagte sie.

„Der Vergleich passt nicht. Felsen fällen keine Entscheidungen. Sie stehen immer am gleichen Ort, das Wasser spült einfach um sie rum und wenn sie ganz lange an dort stehen, dann werden sie langsam zerrieben, so langsam, dass man es gar nicht merkt. Felsen sind das Gegenteil von Kieselsteinen. Und sie sind genauso schlimm.“

„Dann lass uns doch einfach Fische in der Brandung sein“, sagte sie.

„Was zum Teufel ist eigentlich eine Brandung?“, fragte ich und zündete mir eine Zigarette an. Sie stand auf, kam zu mir rüber und legte ihren Kopf auf meine Brust.

„Ich mag es, wie Du atmest. Dein Körper hebt sich dabei immer so langsam und fällt dann ganz schnell wieder nach unten, weil Du nicht atmest, sondern eigentlich immer seufzt“, sagte sie.

„Halt die Klappe“, sagte ich und küsste sie auf die Stirn.


Heimfahrt.

„Denkst Du, wenn Du fährst, manchmal auch darüber nach, das Auto einfach auf die gegenüberliegende Seite der Straße zu lenken und einen entgegenkommenden LKW zu rammen, nur damit unsere gemeinsame Zeit nicht irgendwann enden kann?“, fragte sie und lächelte zu mir auf den Beifahrersitz rüber.

„Nein, darüber denke ich nicht nach“, sagte ich.

„Ich schon“, sagte sie. Und dann fuhr sie uns die restlichen zweihundert Kilometer nach Hause, während ich einschlief, der aus dem CD-Spieler kommenden Musik lauschend. Vier Monate später war unsere gemeinsame Zeit zu Ende, und nach einigen Jahren begann ich damit, zu vergessen, wie diese Zeit eigentlich war. Das Gespräch aber klebt bis heute in meinem Kopf wie Kaugummi unter einer Schulbank, zum Teil sicherlich deswegen, weil ich pathetische Dialoge mag, aber zu einem viel größeren Teil deswegen, weil ich mir sehr sicher bin, dass sie in diesem Moment meinte, was sie sagte. Ich habe danach niemals wieder eine Liebeserklärung bekommen, die einen so starken Eindruck hinterließ.


Klassentreffen: Twitterhude Zwanzigzehn.

Ich hatte gestern beim Twittern einige merkwürdige Visionen. Mir war, als stünde meine halbe Timeline in Person vor mir.

Und die Visionen gingen so:

Mein grandioser Plan, gänzlich unerkannt zu bleiben: Zerstört durch das Duo Infernale aus @Epitymbidia und @Herr Twiggs, die mir zwei ganze Kilometer vom Verantstaltungsort entfernt mit der unvollendeten Frage: „Entschuldigen Sie, wissen sie, wo das stilwerk, ach, der Herr Baumer, der will doch auch dort hin“ jegliche Illusionen nahmen, dass mein Profilphoto und ich einander nicht so einfach zuordenbar wären und sogar meinen Zweitaccount benennen konnten.

Meine undurchdachte Idee, eine Halb-#Offlinerin und gute Freundin mit in die Veranstaltung zu bringen: Zerschmettert in nur 15 Minuten mit den Twitterianern und ihren permanenten Inside-Jokes ([irgendwas über @haekelschwein] – „Du, ich glaub, geh dann mal.“ – „Würde ich ihr folgen, wäre aber bald damit Schluss!“).

Meine schlimme Befürchtung, selbst niemanden erkennen zu können: Makulatur, nachdem der Bursche mit den zweitgefärbten Haaren (@moeffju) schon am Eingang ganz selbstverständlich vor mir stand.

Mein pathetischer Hilferuf nach Aufmerksamkeit über die Twitter-Wall („Sitze allein auf der Heizung und twittere. Passend.“): Innerhalb von Millisekunden („So, jetzt bist Du nicht mehr allein“) reallifeartig beantwortet von den mich plötzlich umringenden @Weiszklee und @Mlle_Amandier.

Mein dringender Vorsatz, nicht vor Ehrfurcht oder Erstaunen über die wahren Persönlichkeiten der vielen virtuellen Menschen zu erstarren: Einfach kaputt geschlagen durch @cemb, dem im Anzug erschienenen @germanpsycho und @diktator.

Mein Geistesblitz, irgendwann einfach wieder zu verschwinden: Torpediert von @elbpoet und @silenttiffy, in deren Taxi ich unter widrigen Umständen geriet, um in Saschas Wohnung bei Rotwein bedeutenden Fragen wie der Motivation, die Menschen zum Schreiben bringt, ausführlich nachzugehen.

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Ein langer Abend unter Gleichgesinnten. Es hatten sich sogar ein paar Spamfollower unter die Anwesenden gemischt. Und ich hab überall noch Analogtweets (vulgo: Zettelgedichte) ausgestreut (die zum Teil gefunden und in einem Fall auch getwitpict wurden [edit: In zwei]) und mein Bild in echt gesehen, Twitterhimmel.

Tausend Favs und Dank @frauenfuss.


Lose rote Fäden.

An diesem Dienstag war alles anders.

„Ich hätte Dich viel früher kennen lernen sollen“, schrieb Herr K. Dann schrieb er lange Zeit nichts. Irgendwann stand er auf, ging nach unten, vor das Backsteinhaus, wo noch immer der Herbst Einzug hielt, und drehte sich eine Zigarette. Ein Einzug mit Kampf, dachte Herr K. Der alte Mieter, der Sommer, dieser räudige, lebenslustige alte Mann mit der sonnengegerbten, ledrigen Haut, der wollte einfach nicht gehen. Herr K. dachte immer noch in Metaphern und seltenen Adjektiven, er konnte gar nicht anders. Aber er schrieb keine Metaphern und seltenen Adjektive mehr, vorbei war vorerst die Zeit der „schwarzlodernden, opiumgeschwängerten Abende am Kaminfeuer“, die in Wahrheit nur ihn, eine Flasche billigen Whiskey und Open Office beinhalten. „Der Autor hat doch sowieso einen Dreck damit zu tun“, dachte Herr K. wie zum Trotz gegen diese Feststellung, weil er ein Fan von Roland Barthes war und sich selbst gerne aus seinen Texten ausradiert hätte.

„Aber dann kamen so viele andere Erzählstränge dazwischen“, schrieb Herr K., als er wieder oben war, an seiner Schreibmaschine, früher nannten sie die Leute Laptop, heute Notebook. Er nannte sie immer nur Schreibmaschine und die Ereignisse nannte er Erzählstränge. Und da war er wieder an dem Punkt, an dem er immer gelangte, weil sein Leben eher Kreisen als Linien verlief: Der Punkt, an dem er sich nicht mehr sicher war, ob er nicht alles, was geschah, einfach herbeischrieb. Es gab kein Schicksal in dieser Überlegung. Es gab nur Herrn K. und seine alte Schreibmaschine.

An diesem Dienstag war alles anders. Herr K. hatte sich nach langem Zögern, Verheddern und Verzweifeln und einer langen Blockade in etwas hineingeschrieben, das ihn wirklich betraf. Er hatte das unbewusst getan, écriture automatique. Er war sich nur noch nicht sicher, wie er diese Geschichte weiterführen sollte. Aber er dachte permanent über die Geschichte und über die Protagonistin nach. Nach langer Zeit hatte er endlich wieder eine Figur erfunden, die er nicht im Verlauf des Roman das Zeitliche segnen lassen wollte und die ihn nicht in den Irrsinn trieb. In den Ohren des Lesers mag sein Verhältnis zu dem, was er dort schrieb, gänzlich unleidenschaftlich klingen, aber in Herrn K.s Welt, der grundsätzlich allen Dingen mit größter Skepsis gegenüberstand (seine Mutter hatte einmal über ihn gesagt, dass das höchste Lob, dass man von ihm bekommen könnte, die Aussage „naja, das kann man sich gerade noch antun“ wäre, und das, so fand Herr K., war das treffendste, was seine Mutter jemals über ihn gesagt hatte), war das ziemlich gut für den Anfang.

Und dann schrieb Herr K. einfach immer weiter. Ohne nachzudenken.


Hirnstrom (II): Selbstgespräch

Social Media mit spießbürgerlicher Hingabe: Einkaufen, Staubsaugen, Twittern steht auf dem To-Do-Zettel in meiner Hosentasche. Randgänger: Ich kam jeden Tag wieder und holte mir blaue Augen und blutige Lippen beim Faustkampf mit Dir, Leben.

Aber jetzt nicht mehr. Ich habe das Kämpfen mit dem Leben aufgegeben.

Mein Lieblingszitat aus den letzten Monaten (und ich deklariere meine Zitate im Gegensatz zu manchen, die daraus Bücher puzzlen, als solche) lautet sinngemäß wie folgt: „Sie liebte nur zwei Dinge: Das erste war ihr langes, schwarzes Haar. Das zweite war, wie einfach sie es abschneiden konnte, ohne dabei auch nur das Geringste zu empfinden.“ Ich hab den Film, aus dem dieses Zitat stammt, leider nie gesehen, habe diese Worte nur flüchtig aufgeschnappt im Zeitstrom der Zwitschermaschine, aber sie blieben in meinem Kopf kleben wie Kaugummi in den Haaren, denn es ist eine sehr poetische Formulierung dessen, was man Freiheit nennt, die hier gemeint ist. Auch wenn es manchen Menschen, die mich nur zu kennen glauben, nicht so scheint: Ich lebe inzwischen diese Form der Freiheit, aber es war ein steiniger Weg hierher. Man gelangt, wenn man diesen Weg geht, sehr schnell an den Punkt, an dem es Probleme gibt, zuallererst mit den einen umgebenden Menschen: Freunde werden agressiv, weil man sie scheinbar nicht genug beachtet, wenn man sich den Regeln des wochenendlichen Ausgehens nicht mehr unterwirft oder sich mehr als sieben Tage nicht meldet. Sie verstehen nicht, dass Zuneigung rein gar nichts mit Quantität zu tun hat, deswegen muss man sie ziehen lassen und darauf hoffen, dass sie irgendwann begreifen, dass man sie eben doch verdammt gerne hatte. Andere Menschen sind irritiert, wenn man ihnen tatsächliche, ehrliche Beachtung und Aufmerksamkeit schenkt (ich glaube, das liegt daran, dass es da draußen, im richtigen Leben, nur wenige Menschen gibt, die wirklich das Gefühl kennen, Aufmerksamkeit geschenkt zu bekommen, die nicht-egoistischer Natur oder auf dem Wunsch nach einer Beziehung [prosaischer sollte man: „auf einem Fickwunsch“ schreiben] basiert ist).

Wie ich an den Punkt gelangt bin, an dem ich die Entscheidung fällte, diesen Weg gehen zu wollen? Es war eine sehr einschneidende Lektion durch eine Person, die nie so etwas wie eine Lehrerin in Bezug auf mich sein wollte, die mich endgültig zu dieser Haltung, mit der ich schon seit Jahren geliebäugelt hatte, führte: Die Art und Weise, wie der Mensch, von dem ich spreche, im Verlauf einiger Monate des letzten Jahres mein Leben im Sturm erobert und dann abrupt wieder verlassen hat (ohne dass es eine Liebesbeziehung in irgendeiner Form gewesen wäre, auch wenn ich mich stellenweise verliebt wähnte), ohne auch nur mit der Wimper zu zucken, würden die meisten Menschen als brutale, gefühlskalte Tat einer Wahnsinnigen beschreiben (was ich zunächst ebenfalls tat), aber schlussendlich steckte in diesem nur scheinbar paradoxen Verhalten in meiner Lesart genau jener Rat, der auch in dem erwähnten Zitat enthalten ist.

Nicht abhängig von Suchtmitteln irgendwelcher Art, von Menschen, von Meinungen, von Verhaltensweisen oder auch nur von Samstagabenden zu sein: Es fühlt sich auf eine Art richtig an, die zu beschreiben Worte nicht in der Lage sein dürfen, zumindest nicht unter Berücksichtigung des gebotenen kompakten Umfangs eines Blogeintrags. Das Paradoxe an der ganzen Sache ist nur, dass ich in all dieser scheinbaren Unabhängigkeit und in der durch sie eröffneten Möglichkeit, mehr und mehr Kunst zu schaffen, nicht erkennen will, dass es genau die Kunst ist, die ich ganz am Ende ebenfalls absäbeln müsste, wenn ich die inhärente Handlungsanweisung wirklich befolgen wollte. Und so säge ich fröhlich weiter an meinem Ast, mit der Präzision eines über Jahre geschulten, manischen Workaholics und hoffe insgeheim vielleicht doch auf das Erscheinen einer Person, die mich wieder abhängig von anderen Dingen macht oder zumindest vom Sägen abhält.


Brotkrumen.

„Ich verstehe dieses Mädchen nicht“,  sagt er. „Was an ihr willst Du denn verstehen?“, frage ich.

„Was ihr Handeln antreibt. Warum sie die Dinge tut, die sie tut und schlussendlich doch auch, warum ich in diesen, ihren Gedanken keine Rolle spielen darf, obwohl es eine Rolle wäre, wie auf meinen Leib geschneidert“, sagt er. „Du missverstehst alles. Wegen ihr trägst Du immer diese Brotkrumen in Deinem Kopf mit Dir rum, wenn Du raus gehst. Du denkst, Du kannst sie ihr hinwerfen und sie würde davon schon satt. Diese Rolle, die Du da spielen willst: Die steht vielleicht gar nicht drin, vorne in dem Stück“, sage ich.

„Dann weiß ich nicht, was zu tun ist“, sagt er. „Mehr als Rollenspiel habe ich nie erlernt!“


Instant Poetry (CLXII)

Zwischen Vöglein krächzen Raaben:
Stürzt sie nieder, drei um hundert!
Steine fliegen, Federn bluten,
wenn Geliebte töten können.